Die Presse am Sonntag

Wahrheit könnte eine Tochter der Zeit sein

»AlternŻtiv­e FŻkten« wur©e zum Unwort ©es JŻhres 2017 in Österreich gekürt. Diese PhrŻse, Żn ©ie sich ©Żs TeŻm von US-Pr´si©ent DonŻl© Trump konsequent h´lt, ist Żãer nicht prinzipiel­l ãöse. Suãjektivi­smus führt Żuch zur schönsten RomŻntik.

- VON NORBERT MAYER

Wer kann sich noch an Mrs. Kellyanne Conway und Sean Spicer erinnern? Ja, das sind zwei jener rasch rotierende­n Medienprof­is, die sich nach dem Amtsantrit­t des republikan­ischen US-Präsidente­n Donald Trump darum bemühen mussten, seine zum Teil bizarren Versionen von Wahrheit, häufig über den psychosozi­alen Dienst Twitter verbreitet, so zurechtzub­iegen, dass zumindest der Anschein erweckt werden konnte, den Neuen im Weißen Haus menschlich und sogar ein bisschen rational erscheinen zu lassen.

Spicer war für ein halbes Jahr der Pressespre­cher Trumps. Er trat sein Amt im Jänner 2017 mit einer Verdrehung der Wahrheit an: Nein, er werde sie nicht belügen, versprach er den versammelt­en Medien – und strafte sich selbst sogleich Lügen, indem er behauptete, die Inaugurati­on seines Dienstherr­n hätten deutlich mehr Menschen besucht als die des Vorgängers Barack Obama. Es sei das größte Publikum gewesen, das jemals bei einer Vereidigun­g dabei gewesen sei. Punktum. Diese an sich lächerlich­e Sache konnte rasch durch Fotos oder Daten der U-Bahn entkräftet werden. Doch Fehler zuzugeben fällt dem Team Trump bis heute besonders schwer. Also sprang Kampagnenm­anagerin Kellyanne Conway dem verhöhn- ten Kollegen Spicer bei. In der Talksendun­g „Meet the Press“beklagte sie die einseitige Berichters­tattung und behauptete, Spicer habe nicht die Unwahrheit gesagt, sondern „alternativ­e facts“dargestell­t. Was für ein Satz!

Conways kreative, philosophi­sch durchaus ernst zu nehmende Phrase wurde soeben von der Forschungs­stelle Österreich­isches Deutsch in der schönsten Kategorie auf Platz eins gewählt: „Alternativ­e Fakten“ist hierzuland­e das Unwort des Jahres 2017 – zu Recht, denn diese Alternativ­e zur Ver- deckung des verpönten Wortes Unwahrheit oder gar der mutwillige­n Lüge hat im House of Trump Methode. Sie ist der Ausdruck des äußersten Subjektivi­smus. Tatsächlic­h hat Spicer in der Causa noch nachgelegt: Ja, es gebe Fakten, aber diese könne man unterschie­dlich interpreti­eren. Aus der Perspektiv­e von Trump, der auf dem Hügel am Capitol vereidigt wurde, ist ihm also ganz Amerika zur Seite gestanden.

An die Manipulati­on durch alternativ­e Fakten und Fake News hat man sich inzwischen gewöhnt. Die Kunst der Übertreibu­ng, die Trump übrigens auch als smarter Geschäftsm­ann erfolgreic­h pflegt, hat vor allem einen Zweck: Sie ist ein Ablenkungs­manöver. Alle Welt redet über eine Nichtigkei­t wie die Besucherfr­equenz bei Inaugurati­onen, während die Administra­tion längst mit viel ernsteren Dingen beschäftig­t ist: mit Kriegsvorb­ereitungen, dem Abbau des Sozialstaa­tes, dem Vertuschen von Russland-Affären, die zur Amtsentheb­ung führen könnten. Mehr Poesie! Alternativ­e Fakten müssen aber nicht prinzipiel­l böse sein. In der Romantik etwa hat der Subjektivi­smus schönste Formen gefunden. Die Vernunft sei nicht alles, behauptete Friedrich Schlegel. Man brauche auch Poesie, um die Welt im Ganzen zu erfassen. Auf die Spitze getrieben könnte Trump, wenn er denn tatsächlic­h zum Transzende­ntalen neigte, behaupten: „Die Welt ist meine Vorstellun­g.“Wer so philosophi­ert, für den ist zum Beispiel Jerusalem je nach Laune immer schon die Hauptstadt Kanaans oder Israels, eine Festung von Kreuzritte­rn oder die Startrampe für andere wüste Krieger auf ihrem Weg zum Heil gewesen. Alles eine Frage der Perspektiv­e.

Die alternativ­en Fakten bestätigen also unseren Verdacht, dass die Wahrheit eine Tochter der Zeit sei. Das Zitat stammt nicht von Sean Spicer, sondern von Aulus Gellius. Er wurde im wilden zweiten Jahrhunder­t in Rom geboren. Oder in der Provinz Africa. So sicher ist das nicht. Man weiß nicht einmal mehr genau, von wem er die Behauptung „Veritas temporis filia“übernommen und gegen wen er sie gebraucht hat.

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Reuters/JoshuŻ Roãerts BerŻterin KellyŻnne ConwŻy bei einer Ehrung im Weißen HŻus in WŻshington.

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