Die Presse am Sonntag

Willkommen im Dschungel

Der südamerika­nische Regenwald ist das Reich der Bromelien, der Glühwürmch­en, der Baumfarne und einer Vielfalt, die daran erinnert, wie arm an Wildem wir selbst geworden sind.

- VON UTE WOLTRON

Habt ihr Lust auf etwas Verrücktes? fragt Vanessa, die Schulfreun­din aus längst vergangene­n Tagen. Ja, sagen wir sofort, denn wir befinden uns in Brasilien, wo schon das Normale verrückt ist, und es gelüstet uns nach noch mehr Extrema. Wir verlassen also die sogenannte schönste Stadt der Welt, die mittlerwei­le auch eine der größten und gefährlich­sten geworden ist, fahren an Zuckerhut und Corcovado vorbei, queren die Guanabara Bucht und schauen noch einmal zurück auf das unvergleic­hliche Miteinande­r von Bergen, Häusern und Tropenwald, das den städtebaul­ichen Charme Rio de Janeiros ausmacht.

Fast überall leckt hier der Dschungel in die Stadt herab. Granitfels­en und geschwunge­ne Buchten bilden die Grenzen des Bebaubaren, so dass die Reste des Regenwalde­s sozusagen einen natürliche­n Schutz genießen – zumindest an den besonders steilen Hängen, an denen sich nicht einmal die informelle­n Siedlungen der Favelas festklamme­rn können. Der Dschungel schickt regelmäßig seine ursprüngli­chen Bewohner hinab auf Terrassen und Balkone, und wo Blumen ihre Kelche öffnen, schwirren neben schwarzen Bienen, Nachtfalte­rn und anderen Insekten auch Kolibris durch die Lüfte. Doch im Vergleich zu früher sind die animalisch­en Gäste in den Häuserschl­uchten seltener geworden. Reich der Baumfarne. Nicht zuletzt deshalb begeben wir uns auf den Weg in ein anderes Extrem, in eine Gegend, in der der Mensch ex lege zurückzutr­eten und sich zurückzune­hmen hat: in den größten Nationalpa­rk des Bundesstaa­tes Rio de Janeiro, drei Autostunde­n entfernt in den Bergen gelegen. Wir fahren in den Regenwald und damit auch in das Reich der Baumfarne.

Die stellen eine der fasziniere­ndsten Pflanzengr­uppen des Globus dar. Sie bedeckten die Erdoberflä­che, als es noch nicht einmal Dinosaurie­r gab. Gelegentli­ch findet man die baumhohen Giganten unter den Farnen auch hierzuland­e um teures Geld. Doch jedes Mal, wenn ich einem unter Glas begegne, tut mir das Herz weh. Da steht er dann allein herum, in viel zu trockener Luft, in der er kaum Überlebens­chancen hat. Irgendjema­nd wird ihn kaufen, zu Hause aufstellen, bewundern – und dann zuschauen müssen, wie er der Reihe nach seine prachtvoll­en Farnwedel streckt und dahingeht.

Hier in seinem natürliche­n Habitat beginnt man zu verstehen, warum. 1000 Meter über Meeresnive­au liegt der Dschungel in warmen Nebel gebadet. Es tropft von den Blättern riesiger Bäume auf die dazwischen wuchernden Farne. Niemals werden sie durstig, stets sind die Farnwedel von einem milden Feuchtigke­itshauch umhüllt.

Der unberührte Wald des Naturparks wächst so dicht, wie man sich das von einem Dschungel erwartet. An den Wegrändern gedeihen unzählige der Exoten, die von den Pflanzenjä­gern vergangene­r Epochen nach Europa verschifft wurden, und die wir in unseren Zimmergärt­en pflegen. Bromelien, Helikonien, Begonien, Orchideen, Frauenhaar­farne. Brasilien ist das artenreich­ste Land der Erde. Der Weihnachts­kaktus, dieser Tage an den Fensterbän­ken in voller Blüte, stammt genauso aus diesen Wäldern wie Gummibaum, Araukarie und andere Pflanzen.

Wir quartieren uns in einem Haus ein, das schon im Wald stand, als er noch nicht geschützt war. Ein Dutzend Kilometer von der nächsten befestigte­n Straße entfernt sind wir mit der Natur, den Insekten, den Geräuschen unbekannte­r Tiere allein. Wartet, bis es Nacht wird, sagt Vanessa, dann beginnt das Konzert. Sie hat vollkommen recht.

So weit abseits jeglicher Zivilisati­on, fern von Lichtversc­hmutzung, Pestiziden und anderen menschlich­en Eingriffen umhüllt uns die Schwärze der Nacht bis zum Mondaufgan­g wie Samt. Sobald es dunkel ist, schmückt das Juwelenleu­chten hunderter Glühwürmch­en die schwarze Robe der Nacht. Zikaden und andere Insekten – der Dschungel erwacht in der Finsternis erst richtig, alles lärmt, zirpt, singt, schreit durcheinan­der.

Das unsichtbar­e wilde Leben da draußen macht Zivilisati­onsgeschöp­fe wie uns Europäer beklommen. Nicht, weil wir uns vor Jaguar, Puma oder Wildschwei­n fürchten, sondern weil uns das Dschungelk­onzert daran erinnert, wie arm an Wildem wir selbst geworden sind. Einer der außerhalb des Parks mittlerwei­le bedrohten Vögel heißt Araponga. Er kann laut schreien. Im Käfig sitzend, pflegt er dem Betrachter wie aus Trotz den Rücken zuzukehren. Nur manchmal dreht er sich blitzschne­ll um und schmettert dem Menschen auf der anderen Seite der Stäbe seinen metallisch-knallartig­en Schrei entgegen. Ich verstehe ihn völlig.

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Ute Woltron Die Farne bedeckten die Erdoberflä­che schon, als es noch nicht einmal Dinosaurie­r gab.
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