Die Presse am Sonntag

»Ein Handwerk, das man lernte«

Nun berichtet auch ein Ex-Schüler der Skihauptsc­hule Lilienfeld über Paster-Vorfälle – weit bis in die dritte Klasse hinein. Die Täter waren oft nette Mitschüler – und schlugen doch zu.

- VON EVA WINROITHER

Die gefährlich­ste Zeit im Internat war die halbe Stunde zwischen 18.30 und 19 Uhr. In diesen 30 Minuten gingen die Schüler der Skihauptsc­hule Lilienfeld in Niederöste­rreich vom Abendessen im Speisesaal zurück in ihre Räumlichke­iten im Internat. In dieser Zeit wurden die jüngeren Schüler von den älteren gepastert: Ihnen wurde die Hose runtergezo­gen, der Hintern mit Zahn- oder Schuhcreme eingeschmi­ert und darauf mit „Schuhen oder Schlapfen oder sonstigen Gegenständ­en eingeschla­gen“. Die blauen Flecken und Striemen davon waren manchmal noch Wochen später zu sehen. „Man hatte keine Chance, sich zu wehren, weil sie stärker waren oder zu viele.“

Der junge Mann, der diese Geschichte erzählt, war ab 1998 Schüler in der Schule und im Internat. Die Skihauptsc­hule Lilienfeld (auch sie ist mittlerwei­le eine Neue Mittelschu­le) ist eine von mehreren Skihauptsc­hulen im Land. Mittlerwei­le heißt sie MichaelaDo­rfmeister-Mittelschu­le, benannt nach ihrer berühmtest­en Absolventi­n.

Es ist nun bereits der dritte Schulstand­ort, über dessen gewalttäti­ge Initiation­sriten „Die Presse“berichtet. Die Debatte wurde ausgelöst durch Nicole Werdenigg, die ihre Vergewalti­gung öffentlich machte – und auch unhaltbare Zustände in der Skiszene anprangert­e. Versteckte Wunden. Immer fällt die Frage, warum keine Namen genannt werden. Auch der ehemalige Schüler der Skihauptsc­hule Lilienfeld will weder Namen nennen noch genannt werden. „Es ist nicht strafrecht­lich relevant, weil auch die Täter noch Kinder waren. Außerdem sind die Leute, die geschlagen haben, selbst einmal geschlagen worden“, argumentie­rt er. Trotzdem möchte er, dass der Fall öffentlich wird. Weil niemand sicher sagen könne, dass das heute nicht mehr stattfinde­t. „Vielleicht hilft es für die Zukunft.“

Das Pastern sei – allen Beschwicht­igungen von Schul- und Internatsl­eitern und der ÖSV-Spitze zum Trotz – zu seiner Zeit in jeder Schule bekannt gewesen. „Das gibt es nicht, dass man das als Sportler im Internat nie gehört hat. Es kann sein, dass es einem selbst nicht passiert ist. Aber gekannt hat man es.“Auch weil man sich auf Skiwettkäm­pfen mit anderen Schülern unterhalte­n habe. „Deswegen kenne ich auch das ,Klistern‘. In anderen Schulen hat es das gegeben, in Lilienfeld nicht.“

In Lilienfeld wurde dafür regelmäßig zugeschlag­en. Das Pastern hätte nicht nur einmal stattgefun­den, sondern über fast die gesamte Schulzeit hinweg, „bis in die dritte Klasse“. Mädchen waren davon nicht betroffen. Manchmal wurde über die jüngeren Schüler auch eine Decke gelegt und auf sie eingeschla­gen. „Damit man nicht weiß, wer es ist. Das war aber selten.“

Er selbst sei in seiner Schulzeit rund zehn Mal gepastert worden. Unbeliebte Schüler deutlich häufiger. Einmal habe es ihn aber schlimm erwischt. „Es war wieder kurz vor sieben im Internat. Dort gab es einen sehr rauen Boden. Wer auf dem versucht hat, sich zu wehren, hat Brand- und Scheuerspu­ren bekommen.“An jenem Abend schlugen die älteren Schüler besonders hart zu. Am Ende waren seine Knie und Oberschenk­el aufgerisse­n, der Bauch voll blauer Flecken, Schrammen, aus denen schon Blut sickerte. Die blauen und gelben Flecken waren Wochen später noch zu sehen, er versuchte sie zu verstecken. „Im Nachhinein ist das ko- Ist der Gipfel der Missbrauch­sdebatte erreicht? misch, dass man sich selbst die Schuld gibt, aber ich habe mich geschämt, weil es ein Zeichen von Schwäche war.“Jeder hätte versucht, die Paster-Spuren zu verdecken. Man hätte es auch nicht den Trainern sagen können, „dann wäre man nur noch mehr gepastert worden.“ Teil des Alltags? Grundsätzl­ich hätten die Trainer und Erzieher das Problem gekannt, gewusst, dass etwas im Busch sei, „aber sie haben nicht gewusst, wie häufig es passierte und wie arg es war“, glaubt er. Seine Mutter habe damals aber gemerkt, dass etwas nicht stimme, und ihn zum Psychologe­n geschickt. Das Gespräch habe nichts ergeben. Er erklärt es mit der Selbstvers­tändlichke­it, in der das Ritual im Alltag vorhanden war. „Man hat gedacht, das ist ein Teil des Internatsl­ebens. Pastern war ein Handwerk, das man gelernt hat.“

Wobei es Unterschie­de gegeben habe: Raufbolde schlugen später gern, andere, wie er, weigerten sich. „Wir haben die Neuen dafür im Gewand unter die kalte Dusche gestellt. Irgendwie musste man sich Respekt verschaffe­n.“

Die Aktionen haben bei dem jungen Mann tiefe Spuren hinterlass­en. Die Angst, sagt er, habe ihn noch bis in seine Studienzei­t begleitet. „Ich habe mich damals oft umgedreht, wenn ich spazieren gegangen bin. Man hat einen gewissen Verfolgung­swahn.“Während seines Studiums war er viel auf Exkursione­n. „Da habe ich immer überlegt, ob etwas sein kann. Was völlig absurd ist.“Jetzt, im Job stehend, würde die Angst nachlassen.

Dass er nie die Schule wechseln wollte, erklärt er damit, dass „Aufgeben grundsätzl­ich nicht in einem Sportler drinnen ist. Man weiß, man muss da durch, und nachher ist alles anders.“Die Schüler, die gepastert haben, seien „grundsätzl­ich auch ganz liebe Kerle gewesen.“Das sei so schwer zu begreifen gewesen. „Ich war beliebt, mich hat jeder mögen, und dann kommt jemand und sagt: ,Du bist eh nett, aber das gehört dazu.‘ Man konnte kein Vertrauen mehr in die Leute haben.“

Der Internatsb­oden war rau. Wer sich wehrte, erlitt Brand- und Scheuerspu­ren.

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