Die Presse am Sonntag

»Die Zehn Gebote« in bleierner Zeit

StephŻn Kimmig hŻt Krzysztof Kie´slowskis Filmserie »DekŻlog« ©rŻmŻtisier­t. Seine ©och etwŻs zu lŻnge un© komplexe Inszenieru­ng verschr´nkt ©ie zehn Episo©en. DŻs Ensemãle üãerzeugt mit WŻn©lungsf´higkeit, Intensit´t un© Żuch Suãtilem.

- VON NORBERT MAYER

Ein Kind wird gesucht, am Ende der Aufführung von „Die Zehn Gebote“, man fürchtet um sein Leben. „Wozu braucht Gott einen kleinen Jungen?“, fragt einer der Suchenden. Weil man bei der Premiere am Freitag im Wiener Volkstheat­er in den fast drei Stunden zuvor bereits eine Fülle bedrückend­er Geschichte­n gesehen hat, ahnt man: Hier ist etwas Schrecklic­hes passiert, in einer grauenhaft grauen Welt. Das war in den zehn einstündig­en Fernsehfil­men des polnischen Regisseurs Krzysztof Kieslowski´ so, die er in den Achtzigerj­ahren kurz vor dem Zerfall des Ostblocks in einer Trabantens­tadt Warschaus als „Dekalog“gedreht hat. Sie haben den gelernten Dokumentar­filmer weithin bekannt gemacht und ermöglicht, dass er bis zum frühen Tod 1996 noch einige cineastisc­he Meisterwer­ke schuf. Überfluss an Gefühl. Stephan Kimmig hat für seine Inszenieru­ng die zehn Filme mit Roland Koberg adaptiert. Anders als im Original gibt es jedoch nicht abgeschlos­sene Episoden. Die Geschichte­n werden verschränk­t. Das ist vorteilhaf­t. So können acht Schauspiel­er, unterstütz­t von zwei musisch begabten Kindern (Leonhard Baumgartne­r und Maila Otto), fast übergangsl­os in mehrere Rollen schlüpfen, die viel abverlange­n. Einige Auftritte sind sehr intensiv, besonders Peter Fasching und Nadine Quittner steigern sich da rein. Auch Jan Thümer und Seyneb Saleh pflegen phasenweis­e den Exzess, tänzerisch, mit expressive­n Gesten. Alle aber spielen dazwischen auch differenzi­ert. Lukas Holzhausen und Anja Her- den beherrsche­n Subtiles und Kraftvolle­s. Der Überfluss an Gefühl aber trägt wesentlich zum Erfolg bei, einige Straffunge­n hätten dennoch gut getan. Übersichtl­ich ist der Abend nicht. Allerdings hilft das Programm, in dem die Gebote erklärt werden und abgebildet ist, wer jeweils welche Rolle spielt.

Das erste Gebot zum Beispiel („Du sollst keine anderen Götter haben neben mir“), der erste Film, wird hier so verwoben: Noch ist der Vorhang unten, Kinderlärm und Geräusche wie von Kufen sind zu hören. Der Vorhang hebt sich, ein bisschen, man sieht Beine, ein Auseinande­rstieben. Der Vorhang geht ganz hoch, Jutta Schwarz, weiß gekleidet, wendet sich mit Fragen an „Mr. Kieslowski“´ (die in Übertiteln auf Polnisch und Englisch zu sehen sind): Was ist Glück? Liebe? Moral? Dann geht Schwarz nach hinten, steigt in die Fahrerkabi­ne eines Lkw auf einem Aufbau mit nur drei Rädern. Tristesse, die in Polen vor dreißig Jahren oder heute in irgendeine­r Vorstadt überall auf der Welt herrschen könnte. Die Bühne (Oliver Helf ) bleibt fast leer. Je fünf rote Stühle aus Plastik säumen sie links und rechts. Dort sitzen meist einige Darsteller vor ihrem nächsten Auftritt.

Da sehen sie zum Beispiel mittendrin, wie ein offenbar alleinerzi­ehender Vater (Gabor´ Biedermann) mit seinem kleinen Sohn Rechenaufg­aben löst. Der bittet ihn darum, schon vor Weihnachte­n die Schlittsch­uhe auf dem Teich vor der Siedlung ausprobier­en zu dürfen. Der Vater, der nicht an

Drei FrŻgen Żn »Mister Kie´slowski«: WŻs ist Glück? WŻs ist Lieãe? WŻs ist MorŻl?

Gott glaubt und in diesem Fall nicht an Zufall, kalkuliert mit dem Sohn: Das Eis wird halten. Der Mann erscheint erst wieder am Schluss, auf der Suche nach dem Kind. Ein Betrieb hat inzwischen warmes Wasser in den Teich gelassen.

So viele Schrecken! Man wird Zeuge eines Mordes, begleitet den verurteilt­en Mörder zur Exekution, sieht einen Ehemann auf der Irrfahrt mit der fordernden Ex-Geliebten, die komplexe Rückentfüh­rung eines Kindes und eine Vater-Tochter-Beziehung, die auf Inzest hinsteuert. Man leidet mit einer Frau, die glaubt, dass ihr Mann stirbt, die ein Kind von einem anderen erwartet. Eine Nymphomani­n und ihr Stalker, ein impotenter Arzt und seine attraktive Frau, zwei Brüder, die bis zur Selbstaufg­abe teure Briefmarke­n sammeln, erleben Glück nur für Momente, Liebe für Minuten. Und die Moral von der Geschichte? Ein beeindruck­ender Abend voll bleierner Depression.

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VolkstheŻt­er St´n©ig wechseln©e Rollen, intensives Spiel (von links): FŻsching, Thümer, Her©en, HolzhŻusen, SchwŻrz, Quittner un© Bie©ermŻnn.

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