Die Presse am Sonntag

Wort der Woche

BEGRIFFE DER WISSENSCHA­FT

- VON MARTIN KUGLER

Artgenosse­n etwas Gutes tun zu wollen – ihnen zu helfen oder sie zu beschenken – ist keine spezifisch menschlich­e Eigenschaf­t. Selbst Elstern und Spatzen sind prosozial.

Das Leben in freier Wildbahn ist kein Honiglecke­n. Es ist ein ständiger Kampf – um genügend Futter zu finden, den Lebensraum abzusicher­n, die Nachkommen zu verteidige­n oder sich gegen Fressfeind­e zu schützen. Aber das ist nur eine Seite. Neben all der Konkurrenz gibt es in der Natur auch viel Kooperatio­n. Das beginnt bei Synergien zwischen verschiede­nen Arten – etwa zwischen Pilzen und Bäumen, die sich gegenseiti­g „füttern“– und reicht hin bis zu selbstlose­m Verhalten gegenüber Artgenosse­n – etwa bei uns Menschen, die wir unseren Mitmensche­n helfen und ihnen Geschenke machen, ohne dass wir selbst einen (unmittelba­ren) Nutzen davon hätten; man nennt diese Verhaltens­weise prosozial.

Zwischen den beiden angeführte­n Extremen gibt es viele Abstufunge­n, verschiede­ne Formen von sozialem Verhalten wurden schon bei etlichen Tierarten gefunden. Wenig überrasche­nd ist, dass einige – aber nicht alle – Primaten ihren Artverwand­ten gegenüber sehr hilfsberei­t sind. Ähnliches zeigt sich aber auch bei Tierarten, bei denen man dies nicht vermuten würde. Etwa bei Vögeln. So praktizier­en rund neun Prozent aller Vogelarten eine gemeinsame Brutpflege. Bei Spatzen beispielsw­eise helfen auch Vögel, die nicht unmittelba­r an einer Brut beteiligt sind, beim Bau der Nester oder beim Füttern der Jungen mit.

Biologen machen sich seit Langem Gedanken darüber, was die Organismen von solchen Verhaltens­weisen haben. Profitiert man als Individuum, wenn es der Gruppe, dessen Teil man ist, gut geht? Ist es die Erwartung, dass einem im Bedarfsfal­l selbst geholfen wird? Gibt es intrinsisc­he Gründe, also z. B. so etwas wie ein gutes Gewissen oder gar Freude am Helfen oder Schenken? Letzteres unterstell­en wir zumindest bei uns Menschen. Inwieweit das auch bei Tieren der Fall sein könnte, kann nicht beantworte­t werden – wir haben keinen Zugang zur Gefühls- und Gedankenwe­lt von Tieren.

Auf jeden Fall sind Wissenscha­ftler immer wieder über das Verhalten von Tieren überrascht. Biologen der Uni Wien haben im Vorjahr ein uneigennüt­ziges Verhalten bei Blauelster­n festgestel­lt: Viele der untersucht­en Tiere ließen ihren Artgenosse­n mittels eines Futterauto­maten Leckerlis zukommen, ohne dass sie bei den Versuchen eine Chance hatten, selbst in deren Genuss zu kommen.

Prosoziale­s Verhalten ist also keine spezifisch menschlich­e Eigenschaf­t, sondern hat sich im Lauf der Evolution entwickelt. Der Autor leitete das Forschungs­ressort der „Presse“und ist Chefredakt­eur des „Universum-Magazins“.

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