»Im Grunde sind die Menschen religiös«
Islamische Quellen gehören zur europäischen Tradition, sagt Beatrix Mayrhofer, Präsidentin der Frauenorden Österreichs. In der Glaubenspraxis brauche es heute dennoch eine Art »Übersetzung« des Korans nach Europa. Der »Grundwasserspiegel des sozialen Enga
Für das Geben im religiösen Kontext gibt es das Wort Almosen, das recht verstaubt klingt. Wie ist das mit dem Geben an sich? Beatrix Mayrhofer: Ich persönlich würde dieses Wort nicht verwenden, weil es Geben aus Mitleid, fast aus Überheblichkeit, bedeutet. Wobei der Ursprung einen ganz anderen Zusammenhang hat. Geben ist eine notwendige Ergänzung zur Gottesverehrung. Ich kann – so verstehen wir das im christlich-jüdischen Sinn – nicht Gott anbeten und gleichzeitig mein Gegenüber gleichgültig behandeln. Gott ist der, der gibt. Gott gibt sich selbst hinein in seine Schöpfung. Er wird Mensch unter uns, das ist das Letzte, was er uns geben kann. Was gibt dann die Gemeinschaft zurück, die sich immer mehr von der Institution Kirche zurückzieht? Das würde ich differenziert sehen. Ich glaube, die Sehnsucht nach dem Sinn, nach Orientierung ist sehr stark da. Sie erwarten das nur nicht mehr in den traditionellen Institutionen. Im Grunde sind die Menschen religiös. Denn einer, der nicht glaubt, glaubt ja nicht – auch das ist eine Glaubensentscheidung. Die christliche Glaubenshaltung ist zwar in Europa in säkularisierter Form vorhanden, aber sie drückt sich in einer großen Hilfsbereitschaft aus. Bei aller Unzufriedenheit: Wenn es wirklich darauf ankommt, wenn es eine konkrete Not gibt, sind Menschen ungemein einsatzbereit und gebefreudig. Eine konkrete Not, wie wir es im Sommer 2015 bei der Flüchtlingswelle erlebt haben? Ich habe damals zu meiner ganz großen Freude gesehen, wie viele junge Menschen – auch aus unserem Schulzentrum – von ihrem Taschengeld für diese Menschen eingekauft haben. Wie sie sich ein Schild auf die Brust gesteckt haben, mit den Sprachen, die sie sprechen, um beim Übersetzen zu helfen. Der Grundwasserspiegel des sozialen Engagements ist gut in Österreich, gerade unter den jungen Leuten. Das lasse ich mir nicht schlechtreden. Im Winter 2012 hatten mehrere Flüchtlinge die Votivkirche „besetzt“, das wurde sehr emotional diskutiert. Sie haben sich damals engagiert. Hat die Votivkirche den Umgang mit Flüchtlingen drei Jahre später geprägt? Die Votivkirche als symbolisches Ereignis hatte eine starke Signalwirkung. Für mich persönlich hat es eine Veränderung in meiner Haltung gebracht, da ich nicht Flüchtlinge erlebt habe, sondern Menschen auf der Flucht. Ich werde einen Moment nicht vergessen: Es war so kalt, und die jungen Männer lagen zusammengeschoben auf den Matratzen. Einer von ihnen hat seinen kleinen Heizstrahler zu mir umgedreht, damit ich nicht friere, ich mit meinem Wintermantel und meinem warmen Kleid. Das ist eine Erfahrung, die wir immer wieder machen: Menschen auf der Flucht möchten nicht nur Empfangende sein, sehr viele möchten sich einbringen und selbst geben. Viele Flüchtlinge kommen aus Ländern, die nicht säkular geprägt sind, sie haben ein innigeres Verhältnis zu Religion – in den meisten Fällen ist es der Islam. Wie wird sich das auf die Religiosität in Österreich auswirken? Es kann sein, dass diese stark gelebte Religionskultur eine Abwehr erzeugt. Die Haltung: „Da sieht man, was Religion bewirkt!“Das ist eine sehr undifferenzierte Sicht, eine Vermischung von Ehrenkodex und Verhaltensregeln, die man auf die Religion zurückführt. Auf der anderen Seite erlebe ich, dass das Bedürfnis, die eigene Religion besser kennenzulernen, das Verständnis dafür zu schärfen, stärker wird. Dass Menschen sich fragen: „Was ist wirklich christlich?“, wenn sie von Muslimen darauf angesprochen werden. Sie haben hier in der Schule des Ordens Einblick in die Welten junger Menschen: Wie intensiv werden Themen wie islamischer Terror oder der Umgang mit Frauen diskutiert? Terror ist ja eine grauenhafte Pervertierung von Religion. Und kann spannend werden für die, die nirgends dazugehören, aus Netz und Beziehungen hinausfallen. Ich habe, als ich noch unterrichtet habe, ein drastisches Beispiel erlebt: Der Religionslehrer schickte drei Burschen zu mir, die zu Schulanfang nicht den multireligiösen Eröffnungsgottesdienst besuchen wollten, weil Ramadan war. Sie sagten: Wir dürfen jetzt keine Musik hören! Ich fragte sie: Woher wisst ihr das? Sie sagten: aus dem pakistanischen Fernsehen. Die jungen Leute wollen gern gute Muslime sein, und was ein guter Muslim in Österreich ist, das wissen sie nicht, daher orientieren sie sich an Pakistan. Viel ist von einem „europäischen Islam“die Rede, aber wie soll dies konkret aussehen? Bei der Frage, wie Religion und Kultur zusammengehen, hat das Christentum ja lange Tradition: Es ist im vorderen Orient entstanden, es hat hellenistische, griechische, römische Einflüsse inkulturiert, hat sie in der Praxis korrigiert und ihre Ausdrucksweise gefunden. Islamgelehrte müssten sagen, was im Koran aus der Situation seiner Entstehung heraus zu verstehen ist – und welche Aussagen übersetzbar sind, etwa in andere Kulturen hinein. Wir fragen uns auch, wie sich das Christentum in die indische Kultur übersetzt, in die chinesische Kultur . . . Diese eigentlich ganzheitliche Debatte wird oft heruntergebrochen auf einige bestimmte Symbole, Beispiel Kopftuchverbot. Diese Debatte wird ganz verkehrt geführt. Es geht grundsätzlich um die Würde der Frau, und die kann man nicht an einem Kopftuch festmachen. Ich trage einen Schleier und will nicht, dass mir jemand sagt, dass ich meinen Schleier nicht tragen darf. Ein Kopftuchverbot würde Sie auch treffen? Das wäre die spannende Frage. Wenn eine muslimische Frau ein Kopftuch nicht aufsetzen darf, darf ich den Schleier aufsetzen? Einer muslimischen Frau das Kopftuch zu verbieten, geht nicht. Die Frage ist eher: Will die Frau das? Eine Muslima soll das Kopftuch nicht tragen müssen, weil ihr Umfeld das verlangt. Ich bin auch sehr dagegen, dass Kinder Kopftuch tragen, das kann keine freie Entscheidung sein. Sie haben in Regensburg zwei Semester bei Joseph Ratzinger studiert. Gibt es etwas an ihm, was sie an Papst Franziskus vermissen? Ich glaube, jede Zeit hat ihren Papst. Joseph Ratzinger habe ich als einen sehr feinen Denker erlebt, mit einer ungeheuren Bildung, einem ungeheuren Gedächtnis. Viele seiner Schriften werden in der Zukunft noch wertvoll sein. Was ich von Benedikt empfangen habe, ist dieses permanente Hinführen zur Person Jesus Christus. Franziskus lebt sehr stark die Konsequenz daraus. Wenn Gott Mensch geworden ist, dann muss ich mich den Menschen ganz intensiv zuwenden, indem ich mich denen zuwende, die an den Rand gestoßen sind. Franziskus geht immer dorthin, wo die Benachteiligten sind. Papst Franziskus reformiert auch die Kurie. Ich wünsche ihm alles Gute für diese Arbeit, denn die große Beliebtheit, die er weltweit erfährt, erfährt er im engsten Kreis jener, deren Posten er in Frage stellt, wahrscheinlich nicht. Ich glaube, er hat nicht nur Freunde. . . . ob Sie die „Me Too“-Debatte verfolgt haben? Ja, ich bin sehr dankbar, dass das aufgebrochen ist. Da findet ein großer Bewusstseinswandel statt – auf beiden Seiten. Frauen können einerseits ganz klar artikulieren: So nicht. Und für die Männer wird das deutlicher. Diese Übergriffigkeit ist häufig ein Ausdruck innerer Schwäche: Weil ich so schwach bin, muss ich Macht ausüben, indem ich andere erniedrige. . . . was Sie sich denken, wenn Europa im populistischen Sinn als „christliches Abendland“bezeichnet wird? Europa speist seine Wurzeln aus verschiedenen Quellen, unter anderem auch aus der islamischen, die unleugbar zur europäischen Tradition gehört. Ich mag den Satz, den Paul Zulehner wiederholt: Es geht nicht um die Rettung des christlichen Abendlandes, es geht um die Rettung des Christentums im Abendland. Wir brauchen keinen neuen Imperialismus des Christentums. Wir brauchen Christen, die als Christen leben. Im Wesen der Kirche geht es zunächst nicht um das Aufsteigen, nicht um oben oder unten. Natürlich gibt es Missbrauch und falsche Einstellungen. Es sind lang tradierte Domänen, die auch verteidigt werden, aber ich sehe das ziemlich gelassen. Innerhalb der Hierarchie gibt es zudem viele Funktionen, die von Frauen ausgeführt werden. Die Frage, die man sich stellen muss, ist: Wie kann man dafür sorgen, dass die Eucharistiegemeinschaft gesichert ist? Auf Dauer wird sich es sich die Kirche nicht leisten können, Frauen von diesen Ämtern auszuschließen. Während des vergangenen Wahlkampfes waren Asyl, Flucht und Grenzzäune große Themen, forciert auch von einer Partei, die sich als christlichsozial definiert. Wie christlichsozial war dieser Wahlkampf? Ich erwarte mir von uns Christen, dass wir ständig laut und beharrlich sagen, was eigentlich christlich ist und worum es uns im Sozialstaat Österreich geht. Die Caritas, die Bischöfe, die Ordensleute machen ständig darauf aufmerksam, aber es sind halt die anderen Stimmen interessanter. Im neuen Regierungsprogramm ist der Kampf gegen den politischen Islam festgeschrieben. Dort steht auch, dass „Religionsgesellschaften mit stärkeren Kontrollbefugnissen“ausgestattet werden sollen. Die Vertreter der Religionsgemeinschaften haben eine sehr gute Beziehung zueinander. Wir müssen sehr sensibel sein, damit nicht eine Religion unter dem Deckmantel der Sicherheit ausgegrenzt wird. Europa verdankt sehr viel der islamischen Kultur. Wir haben vieles gelernt aus der islamischen, arabischen Welt.