Die Flughöhe eines Perfektionisten
In Polen ist Tourneesieger Stoch populärer als BayernStar Lewandowski. Ein Skispringer fasziniert mit Ehrgeiz und Akribie – Einhalt und Lockerheit sind ihm fremd.
Roger Federer, Michael Jordan, Marcel Hirscher (50. Weltcupsieg in Zagreb), Tiger Woods, Jarom´ır Jagr´ – und Kamil Stoch: Es gibt diese Sportgrößen, echte Ausnahmekönner, die in ihrer Zunft alle überragen. Sie sind Allzeitgrößen, Evergreens und Role Models, vor allem ungeheuer erfolgreich. Dabei hat es keinerlei Bedeutung, ob sie noch aktiv, im Tief, Hoch oder im verdienten Ruhestand sind. Ihre Siege, Reaktionen und Aktionen bleiben unvergesslich in der Welt des Sports. Sie sind omnipräsent. Geht es um Skispringen, gibt es heute, Samstag, zum Abschluss der 66. Vierschanzentournee nur noch eine Frage: Schafft Stoch auch den Grand Slam mit Siegen auf allen Stationen?
Die Chancen darauf, dass Sven Hannawald seinen 2002 aufgestellten, zuvor für unmöglich gehaltenen Rekord ab Samstag (ab 17 Uhr, ORF eins) mit Stoch teilen muss, stehen gut. Der Pole, 30, gewann in Oberstdorf, Garmisch-Partenkirchen und Innsbruck, der „Killer aus Zakopane“, so nannte ihn Deutschlands Teamtrainer Werner Schuster tatsächlich in Anspielung auf sein Kalkül und Geschick, bei Großereignissen die Ruhe zu bewahren, hat keine Gegner mehr zu fürchten. Er führt um Welten vor Andreas Wellinger, 64,5 Punkte, die Titelverteidigung bei der Tournee ist ihm schon gewiss. Es geht nur noch um den Rekord. Es ist undenkbar, dass es dieser absolut auf Sieg getrimmte Ehrgeizling nicht versuchen wird. Einzigartige Erfolgskurve. Stoch, dessen Ehefrau, Ewa, auch sein Management leitet und damit in ihrer auf maximale Wahrnehmung ausgerichteten PR-Strategie zur größten Kontrahentin von Trainer Stefan Horngacher geworden ist, hat im Skispringen auch beinahe alles gewonnen, was dieser Sport zu bieten hat. Er wurde 2013 in Val di Fiemme Weltmeister und krönte sich in Sotschi 2014 zum Doppelolympiasieger – so ein Kunststück war zuvor nur dem Finnen Matti Nykänen (1988) sowie Simon Ammann (SUI, 2002, 2010) gelungen. Den Gesamtweltcup eroberte Stoch ebenfalls 2014, der Tourneesieg folgte 2017. Es war der nächste Meilenstein in einer mit nur 25 Weltcupsiegen geschmückten, seit 2004 laufenden Karriere. Zuvor hatten nur vier Springer, Thomas Morgenstern, Jens Weißflog, Nykänen und Es- pen Bredesen, dieses Titelquartett erobert.
Schafft es der Pole auch noch, sich für das Skifliegen zu erwärmen und bei der WM in Oberstdorf (ab 18. Jänner) zu gewinnen, ist er endgültig die Nummer eins an der Schanze. Höher ist jedoch die Wahrscheinlichkeit, dass er vorher den von ihm so begehrten Pilotenschein macht. Fliegen, das hält Skispringer auch in der Freizeit gefangen.
Stoch, der in seiner Heimat populärer als Bayern-Stürmer Robert Lewan- dowski ist – es spricht auch keiner mehr von Adam Małysz –, begeistert die Massen. Horngacher erkannte in diesem Phänomen aber zugleich die größte Gefahr, deshalb ist das Verhältnis zu Stochs Frau nicht immer unproblematisch. Man legt Wert auf große Empfänge, den roten Teppich und das Rampenlicht, PR-Termine, Shows, TV. Der Tiroler Trainer hingegen rät zur Ruhe und Einhalt, empfiehlt Lockerheit – und redet doch oft gegen eine Wand, weil der Drang nach Perfektionismus in Stoch so tief verwurzelt ist.
Doppelolympiasieger: Das schafften vor Stoch nur Nykänen und Ammann. Horngachers Rat an Stoch: »Kamil, bitte. Du musst endlich lockerer werden!«
Dass er genau deshalb nach Sotschi die Orientierung verloren hat, sollte eine Lehre sein. Doch die Versuchungen des Lebens, der Lockruf der Gesellschaft, sie holen Stars immer wieder ein. Es klingt paradox, ist aber keineswegs falsch: Wer ihnen widersteht, bleibt unantastbar. Das ist womöglich Horngachers größter Verdienst neben der Korrektur von Stochs Anfahrtshocke, der Steigerung der Sprungkraft und mannschaftlich-geschlossener Kirchenbesuche vor Bewerben: Er impfte Stoch ein, „ruhiger zu sein, nicht so zu verkrampfen“. Er müsse schließlich niemandem mehr etwas beweisen, solle Wettkämpfe tunlichst genießen. Genauso, wie er das Autogrammschreiben oder Selfies mit Fans genießen würde. Stoch nickte zwar, in seinem Innersten war er hingegen schockiert. Perfektion ist doch sein einziges Leitbild. Millionär, Mode, Medien. Auf Facebook zählt Stoch 930.000 Follower, auch seine Sponsoren halten ihm die Treue. TV-Sender Eurosport begleitet jeden seiner Sprünge. Insider schätzen, dass sich seine Jahresgage (Preisgelder, Werbeverträge etc.) auf eine Million Euro belaufen soll. Das ist für einen Skispringer, der nicht von Red Bull gesponsert wird, sehr viel Geld. Zum Vergleich: Der Tourneesieg ist 17.500 Euro wert, ein Tagessieg die Hälfte. Der Gewinner des RTL von Sölden erhielt 37.400 Euro Preisgeld.
Aber, Stochs Frau ist geschäftstüchtig. Längst gibt es ein eigenes Modelabel, es nennt sich Kamiland. Weitere Einnahmen sind gewiss, neue Geschäftsfelder und Empfänge eröffnen sich nur mit weiteren Siegen. Da kommt der Goldene Adler, den der Tourneesieger am Samstag in Empfang nehmen wird, als zusätzliches Promotion-Instrument ja gerade recht.