Haus auszuräumen
Kisten und Kästen, zwischen all den Engerln, Vasen, Tennispokalen und Keramikfiguren, habe man eine Zeitkapsel nach der anderen gefunden und aufgestochen.
Peter Coeln betont: „Das waren keine Messies. Hier war nichts modrig oder feucht.“Leitner erzählt, was ihn so besonders an diesem Haus faszinierte: Früher sei es üblich gewesen, nur die besonderen Anlässe des Jahres zu dokumentieren, also Weihnachten, Ostern und die Geburtstage. Doch Hilde und Gretl haben alles dokumentiert, ihr komplettes Leben, den puren Alltag. Auf dem Tischkalender 2005 fand sich am 18. Jänner der Eintrag: „Staubsauger überhitzt“– und im Jahr darauf an diesem Datum der Hinweis, dass sich die Überhitzung des Staubsaugers zum ersten Mal jährte.
Tarek Leitner erzählt, dass Gretl und Hilde überall daraufgeschrieben hatten, was wie zusammengehört: „So als ob sie sich gedacht haben, da kommen einmal zwei Typen und wollen unser Leben ergründen.“Was abgeschlossen war, wurde mit Strumpfhosen zusammengebunden, in Kartons abgelegt, manchmal gar noch in Frischhaltesackerln gewickelt. Besonders penibel sortiert und geordnet war die Schuhsammlung. Bis zur genauen Bezeichnung der Farbe der einzelnen Schuhe (aus Hellbeige wurde sogar „Hellstbeige“, um die Farbe noch exakter zu beschreiben) auf der jeweiligen Schuhschachtel. Unter all den Frauenschuhen fanden sich exakt zwei paar Herrenschuhe aus Leder. Noch nie getragen. „Wie für uns gemacht.“Coeln und Leitner schlüpften nicht nur in die Schuhe, sondern auch in Räumrock und Übergangsmantel der beiden Damen. Peter Coeln probierte Hüte und Schals. „Das war nicht geplant, das ergibt sich automatisch, während man im Räumen und Stiadln ist“, sagt Leitner. „Unsere Werte“. Das Haus ist ein Bilderbuchbeispiel für die Kulturtechnik des Aufhebens. Lang vor der Digitalisierung haben die beiden Frauen „ein präzises Profil ihres Lebens erstellt“. Alles haben sie notiert. Ihre Reisen ebenso wie ihr Befinden. Leitner: „Als wir ein Heft mit dem Titel: , Unsere Werte‘ fanden, dachte ich, jetzt erfahren wir etwas über ihre politische Haltung. Dann stellte sich heraus, mit Werten waren ihr Blutdruck und ihre Pulsfrequenz gemeint, die sie täglich gemessen und aufgeschrieben haben.“
Apropos Haltung: Nichts ließ Rückschlüsse auf die politische Gesinnung der Damen zu. Es fanden sich Werbegeschenke von allen Parteien gleichermaßen, die die beiden – natürlich – auch aufgehoben hatten. Miss Niederösterreich. Leitner sagt, ein großer Vorteil beim Sichten und Räumen war für ihn und seinen Compagnon, dass er und Coeln die Frauen nicht persönlich gekannt hatten. Wer einen Haushalt eines Verwandten auflöst, läuft Gefahr, auf Geheimnisse oder Abgründe zu stoßen, die Schmerzen hinterlassen. Peter Coeln erinnert sich, wie schwer das für ihn teilweise bei Dokumenten, Briefen und Gegenständen aus dem Nachlass seines Vaters gewesen ist. Im Fall von Hilde und Gretl war das leichter. Was nicht heißt, dass Das Buch „Hilde & Gretl – Über den Wert der Dinge“von Tarek Leitner und Peter Coeln erscheint am 15. Jänner im Brandstätter Verlag (142 Seiten). Leitner war für den Text verantwortlich, Coeln für die Fotos. Am 24. Jänner stellen sie das Buch im Westlicht vor. Es moderiert Nadja Bernhard. Wer ein Buch erwirbt, bekommt einen Teil aus dem Haus der Cousinen dazu geschenkt. Ein Deckerl, ein Engerl oder sonst etwas. die beiden nicht ebenso auf viele kleine und größere Dramen gestoßen sind. Es war die Sammlung von zwei Leben und ein Dokument des 20. Jahrhunderts.
Gretls Bruder Anton Höfler beispielsweise: Der musste im Zweiten Weltkrieg an der Front dienen. Die Familie schrieb im Briefe und erhielt Post von ihm, „aus dem Felde“. Doch irgendwann kamen keine Antworten mehr. Der Bruder wurde als vermisst gemeldet. 14 Jahre lang hoffte die Familie auf seine Rückkehr, bis sie am 30. Oktober 1957 beim Kreisgericht Krems an der Donau den Antrag auf Todeserklärung stellte. Sein Bett, sein Zimmer blieben bis zuletzt unbenutzt. All das erzählen die Briefe und Dokumente, die Grete Höfler fein säuberlich gesammelt hat. Überhaupt war Grete die Peniblere, aber auch die Kommunikativere, mehr nach außen Gehende. 1952 bewarb sie sich etwa um den Titel Miss Niederösterreich. Von der Straßenkleidung bis zum Bikini war im Haus noch alles vorhanden. Diverse Briefe und Korrespondenzen der beiden Frauen lassen darauf schließen, dass sie immer wieder Beziehungen zu Männern eingingen, mit ihnen leben wollten sie nicht. Gretl und Hilde teilten sich ein Doppelbett und ein Leben. Was uns fertig macht, ist der Alltag. Für Tarek Leitner sind dieses Haus und seine beinah unfassbare Sammlung ein Sinnbild für den Alltag. „Das Außergewöhnliche lässt sich leichter erzählen, so wie sich Krisen leichter bewältigen lassen. Aber was uns wirklich fertigmacht, ist ja der Alltag. Die Kindererziehung oder den Erfolg im Beruf, in Tarek Leitner und Peter Coeln krochen beim Stiadln in die Kleider von Hilde und Gretl. Leitner trägt einen Räumrock (oben), Coeln Hut, Schal und Jacke.
Auch zwischen Leitner und Coeln hat sich während der Ausräumarbeit eine Beziehung mit unterschiedlichen Rhythmen und Rollen entwickelt. Einmal war der eine früher hungrig und der andere länger konzentriert oder umgekehrt. Leitner sah sich eher als Bewahrer der Gegenstände, Coeln dachte derweil darüber nach, welche Möbel und Accessoires er weiter nutzen werde. Er hat das denkmalgeschützte Haus im Garser Stadtzentrum mithilfe einer Architektin behutsam saniert, wieder mit Originalmöbeln und Accessoires bestückt und nützt es als Wochenenddomizil. Die Nazizeit weggesperrt. Bemerkenswert war, welchen Wert die Dinge für Hilde und Gretl hatten. Das zeigt auch die Geschichte mit dem Safe. Verwandte wussten, dass die beiden so etwas besessen hatten. Doch das Ding war nicht auffindbar. Erst als das Haus längst ausgeräumt war, tauchte der Safe auf, und schließlich fand sich bei der Mutter von Winzer Ott der Schlüssel dazu. Und was war darin? Nicht Gold, wie es zuerst ausgesehen hatte, sondern Modeschmuck und ein Packen Dokumente, darunter die Arierausweise der Familie. „Im Grunde fand sich in diesem Safe die gesamte Nazizeit, fein säuberlich in einer dicken Leitz-Mappe abgelegt“, erzählen Coeln und Leitner. Nicht eingesperrt, sondern weggesperrt. „Eigentlich war nichts Wertvolles darin, was man sichern müsste. Im Haus sind viel wertvollere Sachen offen herumgelegen.“
Und was ist mit den vielen Gegenständen passiert? Einiges wurde, wie erwähnt, wiederverwendet und ist dem Haus erhalten geblieben. Manches, gar nicht so wenig, wurde weggeschmissen. Und dann haben Coeln und Leitner einen Fundus zusammengestellt, aus dem sie sich ab sofort bedienen werden: Bei ihren Buchpräsentationen wollen sie jedem Buchkäufer ein Stück aus dem Haus dazugeben. Ein Deckerl, ein Engerl oder eine kleine Vase. In Erinnerung an Hilde und Gretl aus Gars am Kamp.
Lange vor der Digitalisierung haben die Frauen »ein präzises Profil ihres Lebens erstellt«.