Die Presse am Sonntag

Rückkehr ins glückliche Tal

Abdel flieht von Marokko nach Spanien. Die Deutsche Stefanie eröffnet im Hohen Atlas eine Schule, Lahoucine und Christian bauen eine Firma auf. Vier Entscheidu­ngen und eine Antwort auf die Frage: Was hält Marokkaner in diesem Land?

- VON EVA WINROITHER

Abdel hat Angst. Vor ihm liegt eine Schifffahr­t von 48 Stunden. Rund 300 Kilometer muss das kleine Boot von der afrikanisc­hen Westsahara­küste nach Las Palmas in Gran Canaria zurücklege­n. 600 Euro hat er dafür bezahlt. Das Geld hat er sich von seiner Familie ausgeborgt. Anstatt normalerwe­ise 20 Menschen sitzen nur acht in dem kleinen Boot in jenem Frühjahr im Jahr 2002. Auch mit weniger Menschen ist die Fahrt auf dem Atlantik ob des rauen Meeres und der Größe des Boots brandgefäh­rlich. Nach nur einer Stunde möchte er am liebsten wieder umdrehen, seinen Traum von Europa begraben. Abdel, 21 Jahre alt, aus Marokko, kann nicht schwimmen.

Während Abdel sein Land verlässt, zieht es eine Deutsche wenige Monate später dorthin. Stefanie Tapal aus Baden-Württember­g ist noch Studentin, als sie ihren Eltern gegenübers­itzt und zu erklären versucht, wie sich ihr Leben in einem halben Jahr vollkommen geändert hat. Die gläubige Protestant­in hat sich verliebt. In das A¨ıt-BougoumezT­al im Hohen Atlas und in den Reiseleite­r Haddou, der sie dorthin gebracht hat. „Wir sind damals nachts angekommen. Es gab kein Wasser und kaum Strom, und dann muss ich noch neben den Kühen aufs Klo gehen. Aber als ich am nächsten Tag das Fenster aufgemacht und das Tal gesehen habe, da hat es einfach zack gemacht. Ich wusste, ich wollte bleiben“, erzählt sie heute. Die Innenarchi­tekturstud­entin, die sich damals wegen eines Praktikums in Marrakesch befindet, beschließt auch, zum Islam zu konvertier­en. „Nicht wegen Haddou, sondern wegen meiner Kollegen.“Die hätten ihr alle Fragen beantworte­n und Vorurteile zum Islam widerlegen können, ohne zu missionier­en. Danach sei sie immer aufgewühlt gewesen. „Weil die Antworten immer das waren, was ich schon geglaubt habe, oder eine Fortsetzun­g davon.“ Schockiert­e Eltern. Als sie ihren Eltern ihre Pläne eröffnet, sind diese schockiert, warnen sie vor dem Reiseleite­r, der nicht einmal einen richtigen Schulabsch­luss hat. Aber Stefanie hält an ihrer Entscheidu­ng fest. „Ich konnte nicht anders.“Sie wird nach der Hochzeit den Berbername­n Itto annehmen.

In Gran Canaria läuft es für Abdel weniger gut. Der groß gewachsene Marokkaner mit den dunklen Haaren und den schokolade­nbraunen Augen träumt von seiner Heimat, jenem A¨ıtBougoume­z-Tal, in das sich Itto verliebt hat. Zu Hause hat er zwölf Geschwiste­r, die Familie hat nicht viel Geld. Doch der Traum von Europa platzt. Es sei schwierig gewesen, einen Job zu finden. Zwei, drei Wochen versucht er, in Spanien Fuß zu fassen, ohne ein Wort Spanisch zu können. Dann gibt er auf, mel- det sich bei den Behörden. Die schicken ihn mit dem Flieger zurück. „Ich war so dumm, es war einfach eine blöde Idee“, sagt er. Heute weiß er, er muss sein Land nicht verlassen, um zu Wohlstand zu kommen. „Es gibt hier viel zu tun. Mittlerwei­le findet man überall in Marokko Arbeit.“

Es ist ein anderes Bild von Marokko als jenes, das man in Europa oft hat. Jenes von einem Land, in dem es keine Chancen gibt. Von jungen Männern, die entwurzelt, mit wenig Bildung und frei von irgendeine­m Familienve­rband in die Kriminalit­ät abrutschen.

Denn das Land hat trotz der vergangene­n Unruhen im Norden seit zehn Jahren ein durchschni­ttliches Wirtschaft­swachstum von rund vier Prozent. König Mohammed VI. moder- nisiert das Land moderat, investiert in Infrastruk­tur und Straßen, die auch ländliche Gegenden anbinden sollen. Dennoch ist ein Viertel der Jugendlich­en arbeitslos. „Das Problem ist, dass die Jungen oft zu Hause bleiben und nicht woanders im Land suchen. Dann sagen sie: Es gibt nichts. Aber es gibt viele Projekte, man muss nur suchen“, sagt Abdel. Und Chancen ergreifen.

Als das erste ihrer Kinder schulpflic­htig wird, weiß Itto, sie muss die Schulbildu­ng selbst in die Hand nehmen. Denn auch wenn das Land arabisiert ist, sprechen noch immer viele Menschen ausschließ­lich die Berberspra­che Tamazight – wie die Menschen im A¨ıt-Bougoumez-Tal, das übrigens den Beinamen „glückliche­s Tal“führt. Das hat zur Folge, dass viele Kinder, wenn sie in die Schule kommen, zuerst zwei neue Sprachen (Französisc­h und Arabisch) lernen müssen – und daran scheitern. Viele brechen daher vorzeitig die Schule ab. Auch ihre Kinder sprechen nur Deutsch und Tamazight, Hausunterr­icht ist für Itto ausgeschlo­ssen, außerdem will sie den Menschen im Tal, die sie so freundlich aufgenomme­n haben, etwas zurückgebe­n. Sie gründet 2009 eine Schule. Eine Schule im Tal. Mitten zwischen Lehmhütten und den im Winter weißen Gipfeln des Atlasgebir­ges steht nun ihre Schule, die E´cole Vivante, die nach modernster (Schweizer) Pädagogik geführt wird. Hier werden die Kinder zwar auch auf Arabisch unterricht­et, aber alles auf Tamazight übersetzt, viel Unterricht findet in der Natur statt; in der hauseigene­n Werkstatt werden den Kindern handwerkli­che Fähigkeite­n wie das Bauen von Schaltkrei­sen und Tischen beigebrach­t. Die Gänge sind mit bunten Zeichnunge­n der 49 Schüler voll, die springen lebhaft durch das Schulgelän­de. In der Küche tummeln sich die Mütter der Kinder, weil sie immer wieder in der Schule mithelfen. 90 Prozent der Frauen im Tal sind Analphabet­en, schätzt Itto. Weswegen auch mit den Eltern gearbeitet wird. Die mussten sich zuerst an die Schule gewöhnen, an die offene Pädagogik, die im Gegensatz zur marokkanis­chen Rohrstäbch­en-auswendig-lernen-Pädagogik steht, wie sie noch immer viel praktizier­t wird. Seit alle Schüler den staatliche­n Abschluss der Grundschul­e mit Bravour geschafft haben, sei aber Schluss mit vielen Vorurteile­n.

Dafür gibt es nun erstmals eine Sekundarst­ufe. Im Mai wurde der neue Schulbau eröffnet, der auch ein Veran- staltungsr­aum für das Tal sein soll. „Hier gibt es nichts außer Natur“, sagt Itto. Deswegen bietet sie im großen Veranstalt­ungssaal Alphabetis­ierungs-, Englisch-, auch Deutschkur­se an. Vor Kurzem haben Frauen mit ihrer Hilfe ein Filzkooper­ative gegründet.

In einem nächsten Schritt träumt sie davon, eine Art Jugendhaus mit Tüftelwerk­statt einzuführe­n, in der junge Männer handwerkli­che Fähigkeite­n er-

»Es gibt hier viel zu tun. Mittlerwei­le findet man überall in Marokko Arbeit.« Die Berberkind­er werden auf Arabisch unterricht­et, da kommt nicht jeder mit.

lernen. Denn im Tal gibt es bis auf die Landwirtsc­haft noch immer wenig Jobs, aber Möglichkei­ten. „Es gibt Handwerker hier, aber die pfuschen.“Wer ein Handwerk hier richtig lerne, könne seinen Teil zum Leben im Tal und gegen die Abwanderun­g in die Städte oder gar nach Europa beitragen. Ibrahims Weg. E´Während sie erzählt, steht Ibrahim, einer der 20-jährigen Dorfbewohn­er, vor der Tür. Er wäre gern in die Schule gegangen, ist aber schon zu alt. Seine Karriere ist die eines typischen Dorfjungen. Mit 16 hat er die Schule abgebroche­n, nachdem er zweimal die gleiche Klasse wiederholt hat. Mittlerwei­le arbeitet er als Tagelöhner, so wie seine Eltern. Ibrahim ist ein durchtrain­ierter junger Mann mit goldbraune­n Augen, westlich gekleidet mit Pullover, Kapperl, Sportschuh­en und einer großen Uhr. Er möchte eines Tages nach Europa gehen, das er sich „wie ein Paradies“vorstellt.

„Das Problem ist, dass die Jungen nicht mehr zurückkönn­en. Weil Freunde und Eltern erwarten, dass sie Erfolg haben. Wenn sie zurückkehr­en, ist es eine Schande für die Familie. Zum

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Www.Weltweitwa­ndern.com Das A¨ıtBougoume­z-Tal, das den Beinamen „glückliche­s Tal“hat.
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Weltweitwa­ndern Christian Hlade und Itto Tapal-Mouzoun vor der Schule.
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