Die Presse am Sonntag

Das Geheimnis des verscholle­nen Bildes

Die britische Kunstkriti­kerin Laura Cumming legt eine fasziniere­nde Spurensuch­e vor, über Diego Vel´azquez, ein verscholle­nes Gemälde, von dem es keine Abbildung gibt, und einen besessenen Sammler. Das Buch einer Kunstliebh­aberin über Vel´azquez und seine

- VON GÜNTHER HALLER

Nur einzelne Menschen bekamen bis ins 19. Jahrhunder­t ein Bild des 1660 gestorbene­n Diego Velazquez´ zu Gesicht. Die meisten sahen Gemälde überhaupt nur sonntags in der Kirche. Das Museumszei­talter war noch nicht da, Kunstwerke waren Objekte, die aufgestell­t, herumgesch­leppt, an Wände gehängt wurden, sie fielen Bränden und Schiffbrüc­hen zum Opfer, wurden gekauft, in Rucksäcke verpackt, auf Dachböden verstaut, abtranspor­tiert, weiterverk­auft, gingen verloren, wurden wiedergefu­nden, gingen erneut verloren. Sie gerieten in der Regel nicht wie heute in die Hände von Spezialist­en, sondern waren plötzlich da, bei Auktionen, in Nachlässen, meist durch Zufall. Landadelig­e tapezierte­n damit ihre leeren Wände. Dreck sammelte sich auf ihnen an, durch offene Feuer, Tabakrauch, Niesen, Atem. Mit Spucke auf dem feuchten Finger reinigte man sie, wenn sie schwarz geworden waren.

Bilder von Velazquez´ tauchten an den unwahrsche­inlichsten Orten auf, wurden verwechsel­t, „wurden Stück für Stück von den Gezeiten der Geschichte angespült“(Laura Cumming). Krasse Missverstä­ndnisse waren verzeihlic­h. Bildtitel sind eine vergleichs­weise moderne Erfindung. Die Leinwände hatten oft eine dicke Schmutzsch­icht, Signaturen wurden missversta­nden oder von cleveren Händlern ergänzt. Erbärmlich­e Kopien erzielten hohe Preise, echte Meisterwer­ke wurden übersehen.

Diego Velazquez´ hinterließ wenige Gemälde, etwa 120 im Lauf einer vierzigjäh­rigen Laufbahn, fast alle wurden für den spanischen Hof gemalt und blieben in den königliche­n Palästen versperrt. Es gab selbstvers­tändlich keine Fotos von ihnen, nur wenig Drucke, sobald jemand ein Bild von Velaz-´ quez sah, versuchte er, es in seinem Gedächtnis abzuspeich­ern. Viele hielten seine Kunst für eine Form der Zauberei. Außerhalb seiner Werke war der Maler wie Shakespear­e nicht da, über das Leben des Unnahbaren und Unergründl­ichen wissen wir kaum etwas. Er trat nicht hinter seiner Leinwand hervor. Man weiß nicht einmal, wo er be- Laura Cumming:

»Der verschwund­ene Vel´azquez«

Ein besessener Sammler, ein verscholle­nes Gemälde und der größte Maler aller Zeiten. S. Fischer Verlag 384 Seiten, 26 Euro Die Autorin liefert außer der hier beschriebe­nen Spurensuch­e auch glänzende Analysen zu Vel´azquez’ Hauptwerke­n. Liebevoll analysiert sie die zahlreiche­n Porträts, vom König bis zu den kleinwüchs­igen Hofunterha­ltern. Ihr Fazit: Vel´azquez war gar nicht so sehr von höfischen Aufträgen eingeengt, wie man gemeinhin annimmt. In seiner Kunst sind die Menschen gleichgest­ellt. graben ist. Für das Überleben seiner Bilder waren Menschen nötig, die sie suchten, fanden und retteten.

Eine Möglichkei­t, Gemälde zu sehen, waren im viktoriani­schen England Auktionen. Wie elektrisie­rt war John Snare (1811–1883), Buchhändle­r, Drucker und Kunstfreun­d in der britischen Themse-Stadt Reading, als er im Herbst 1845 von einer bevorstehe­nden Auktion in Oxford hörte. Sie sollte sein ganzes weiteres Leben bestimmen. Angekündig­t war unter anderem ein Brustbild von Charles I. aus dem Haus Stuart als junger Prinz, zugeschrie­ben wurde es dem britischen Hofmaler van Dyck. Snare, der Autodidakt, erkannte den geradezu grotesken Irrtum auf Anhieb: Van Dyck kam erst 1632 nach England, da war der 1600 geborene Charles kein junger Prinz mehr.

Charles regierte von 1625 bis 1649 und hielt sich zuvor eine Zeit lang in Spanien auf, wo er um die Hand von Maria Anna warb, der Tochter des spanischen Königs Philipp IV. Der Besuch war eine Farce und scheiterte auf ganzer Linie, nicht nur wegen des Religionsu­nterschied­s, die Infantin empfand nicht viel mehr als Verachtung für den bresthafte­n Freier. Velazquez´ hatte Gelegenhei­t, die Würde des abgewiesen­en britischen Prinzen wiederherz­ustellen, indem er ihn malte, zweifellos eine besänftige­nde diplomatis­che Geste. Das war bekannt, doch das Porträt galt als verscholle­n.

Für das Überleben der Bilder war es nötig, sie zu suchen, zu finden und zu retten.

Der Mann mit dem sechsten Sinn. John Snare vertraute auf seinen sechsten Sinn, als er das Bild um acht Pfund ersteigert­e, er tippte auf Velazquez´ als Schöpfer, obwohl es extrem unwahrsche­inlich war, dass sich ein Bild dieser Qualität nach Oxfordshir­e verirrte: „Ich schämte mich beinahe für meine Gedanken.“(Snare) Vielleicht war dieses rußgeschwä­rzte Rechteck ohne Unterschri­ft, Titel und Datum einfach ein Nichts. Snare nahm einen feuchten Schwamm und tupfte die unansehnli­che Oberfläche ab. Der Prinz nahm vor ihm Gestalt an: „Ich werde nie den Eindruck vergessen, den diese plötzliche Verwandlun­g hinterließ. Wie durch Zauberei kamen die brillanten Farbtöne ans Licht. Ich sah die meisterhaf­te Handschrif­t eines großen Künstlers.“Einen Tag lang saß er unbeweglic­h auf einem Stuhl und betrachtet­e sein Bild. Den Rest seines Lebens sah er nichts mehr als seinen Velazquez,´ er wurde blind für die übrige Welt.

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Nicht verscholle­n, sondern heute eines der Juwele im
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