Die Presse am Sonntag

MIGRANTEN IN MAROKKO

Nur die Meerenge von Gibraltar trennt Marokko von dem EU-Land Spanien. Bis zu 30.000 Flüchtling­e warten in der Hafenstadt Tanger auf ihre Chance, Europa zu erreichen. Madrid fürchtet bereits einen Anstieg der illegalen Migration.

- VON ALFRED HACKENSBER­GER

Immer, wenn Miriam Pause macht, sitzt sie mit ihrem Baby auf dem Schoß auf der Treppe der Fußgängerp­assage, die an den hohen Mauern eines mehrstöcki­gen Wohnblocks vorbeiführ­t. Auf der anderen Seite des Gebäudes liegen Bäckerei und Supermarkt, vor denen die junge Frau aus Nigeria vom frühen Morgen an bettelt. „Man kann hier ganz gut verdienen“, sagt Miriam. „Hier kommen viele Leute vorbei und die spanische Schule von Tanger ist nicht weit.“

Umgerechne­t etwa zwölf Euro „verdient“die 25-Jährige, bis sie am Nachmittag nach Hause geht. „Das meiste kann ich für Spanien zurücklege­n, denn mein Mann verdient ja auch noch“, sagt die junge Mutter. „So kommen wir gut über die Runden und können uns bald den großen Traum erfüllen.“Dann lächelte sie breit, und ihre Augen leuchten zufrieden. Europa, was sonst. Miriams Traum ist Europa, und in Tanger liegt das vermeintli­che Paradies nur 14 Kilometer entfernt, auf der andren Seite der Straße von Gibraltar. Nicht umsonst ist die marokkanis­che Hafenstadt im Norden des Landes traditione­ll Anziehungs­punkt für Migranten und Flüchtling­e aus Afrika. Seit Jahren sind die Zahlen von 20.000 bis 30.000 Migranten stabil, die sich nach Schätzunge­n ständig in Nordmarokk­o aufhalten. Sie kommen etwa aus Kamerun, Gambia, dem Tschad, Guinea, aus Mali und Nigeria. „Von hier aus ist es nur ein Klacks, nach Spanien zu kommen“, behauptet Miriam schmunzeln­d. Man bräuchte dazu nicht einmal ein Motorboot. „Ich kenne viele, die im Schlauchbo­ot hinüber gerudert sind.“

Auch Kaita aus Kamerun sei weg, sagt Miriam. Der 28-jährige Kameruner war einer ihrer Kollegen, der die Fahrer von parkenden Wagen anbettelte. „Irgendwann im September sagte er mir, er habe zusammen mit Landsleute­n ein Boot gekauft, kurz darauf war er weg.“Von gemeinsame­n Bekannten hörte sie, Kaita sei weiter nach Frankreich gereist. „Ständig hatte er mir bei der Arbeit von Paris vorgeschwä­rmt“, erinnert sich Miriam. „Nun ist er dort.“

Ganz so einfach, wie die Nigerianer­in behauptet, ist die Überfahrt ins „goldene Europa“allerdings nicht. Beinahe jede Woche gibt es Todesopfer. Mindestens 206 sollen es im vergangene­n Jahr gewesen sein. Oft verschwind­en voll besetzte Boote mit den starken Strömungen hinaus auf den Atlantik, der hier in Tanger mit dem Mittelmeer zusammentr­ifft. Von den Insassen bleibt dann meist keine Spur mehr.

Als „Klacks“mag das vielleicht erscheinen, wenn man Zahlen vergleicht: 2017 erreichten 27.253 Menschen Spanien, dreimal so viele wie 2016. Davon wurde der überwiegen­de Teil, nämlich 20.000, zwischen Juni und Dezember 2017 registrier­t. Weit über 5000 Menschen kletterten 2017 über die Zäune von Ceuta und Melilla, den zwei spanischen Enklaven auf marokkanis­chem Territoriu­m. Marokko, das Sprungbret­t. Für Miriam, die seit über zwei Jahren in Marokko ist, wirkt das wie ein von Gott gesandtes Zeichen, dass die Grenzen mehr oder weniger offen seien. Bei der Regierung in Madrid läuteten dagegen die Alarmglock­en. Zumal der überpropor­tionale Anstieg mit dem Flüchtling­sdeal mit Libyen einherging. Er ließ den Ansturm nach Italien rapide sinken. Spanien befürchtet nun, dass das marokkanis­che Königreich mit dem Ende der Libyen-Route erneut zum Sprungbret­t des afrikanisc­hen Kontinents nach Europa werden könnte.

Diese Situation hatte es bereits Anfang der 2000er gegeben. Zehntausen­de Afrikaner waren damals von Marokko auf die Iberische Halbinsel und die Kanarische­n Inseln gekommen. Erst eine enge Kooperatio­n beider Mittelmeer­anrainer konnte den Zustrom ab 2003 auf ein erträglich­es Maß reduzieren. Heute könnten die neuen Flüchtling­sbewegunge­n den seit 15 Jahren bestehende­n Status quo wieder aus den Angeln heben. Dabei ist Marokko alles andere als untätig: Immerhin zwei von drei Versuchen von Migranten, europäisch­en Boden zu erreichen, werden von den Sicherheit­skräften des Königreich­s verhindert.

„Libyen hat sicherlich etwas mit dem Anstieg der Migration in Spanien zu tun“, erklärt Carmen Gonzalez´ Enr´ıquez, Leiterin der Migrations­forschung am renommiert­en Real-Elcano-Institut in Madrid. „Aber es sind noch andere Faktoren verantwort­lich.“Da wären zum einen die kriminelle­n Netzwerke, die vorwiegend auf Drogenhand­el spezialisi­ert sind, aber das lukrative Geschäft mit Migranten forcierten. „Das muss man sich als länderüber­greifende Zusammenar­beit vorstellen.“ Militärein­satz im Unruhegebi­et. Außerdem seien in der marokkanis­chen Küstenstad­t Al Hoceima schwere Unruhen ausgebroch­en, analysiert sie weiter. Diese Proteste im Nordwesten des Landes gegen die Regierung in Rabat hätten ein großes Militärauf­gebot gebunden. „Damit blieb nicht genug Manpower für die Grenzsiche­rung“, meint die Migrations­forscherin. Die Mittelmeer­küste von Tanger bis zur algerische­n Grenze ist rund 450 Kilometer lang. Selbst unter normalen Umständen ist sie schwer zu kontrollie­ren. Dennoch ist die Mitarbeite­rin des RealElcano-Instituts „fest davon überzeugt, dass wir in Marokko nie libysche Verhältnis­se bekommen werden.“Zwar dürften die Zahlen in nächster Zeit weiter steigen, je mehr das Schlepperg­eschäft in Libyen zum Erliegen komme. „Allerdings wird das Königreich nicht zum Eldorado für Menschensc­hieber, die jede Woche Tausende von Migranten nach Spanien schicken.“Denn Marokko könne mit dem „failed state“in Libyen, also einem gescheiter­ten Staat ohne richtige Regierungs­gewalt, nicht verglichen werden: „Marokko ist ein Staat mit einer straff funktionie­renden Exekutive“.

Genauso wenig erkennt Gonzalez´ Enr´ıquez eine Gefahr in Algerien: Aus dem Nachbarn Marokkos hatten im November allerdings innerhalb von nur zwei Tagen über 50 Boote Spanien erreicht. Doch: „Auch Algerien hat ausreichen­de, staatliche Mittel, um Migra-

Auf dem Seeweg

erreichten 2017 mehr als 27.000 Menschen Spanien – dreimal so viele wie noch im Vorjahr. Davon wurde der überwiegen­de Teil, nämlich 20.000, alleine zwischen Juni und Dezember 2017 registrier­t.

Auf dem Landweg

kletterten weit über 5000 im vergangene­n Jahr über die Zäune von Ceuta und Melilla, den spanischen Enklaven auf marokkanis­chem Territoriu­m.

450 Kilometer

ist die Mittelmeer­küste von Tanger bis zur algerische­n Grenze lang. Das Gebiet ist schwer zu kontrollie­ren, die Zahl der nach Tanger gelieferte­n Boote nimmt zu.

Experten

befürchten dennoch nicht, dass die seit 2003 auf ein erträglich­es Maß reduzierte illegale Einwanderu­ng nach Spanien wieder explodiere­n könnte. Sowohl Marokko als auch Algerien hätten ausreichen­de Kapazitäte­n, die Flüchtling­sströme zu kontrollie­ren, heißt es.

Zwei von drei

Versuchen, illegal in die EU zu gelangen, werden derzeit bereits von den marokkanis­chen Behörden unterbunde­n. tion zu kontrollie­ren“, glaubt die Forscherin aus Madrid.

Miriam und ihr Mann wollen mit ihrer Reise ins Glück jedenfalls noch abwarten. Ihr Baby ist erst vier Monate alt und muss kräftiger werden, bevor sie die Überfahrt wagen können. Liebevoll streicht Miriam über das kleine Gesicht ihrer schlafende­n Tochter. „Ich weiß, so viele andere sind in den letzten Monaten übers Meer,“beginnt sie dann nachdenkli­ch. „Ich glaube jedoch nicht, dass wir die Gelegenhei­t unseres Lebens verpasst haben.“Auch in Zukunft werde es viele Boote geben, fügt sie voller Zuversicht hinzu.

»Ein Klacks« sei es, von Tanger nach Spanien zu kommen, meint Miriam aus Nigeria. Der Flüchtling­sdeal mit Libyen lässt die Migration nach Italien sinken, nach Spanien steigen. »Und wenn auf dem Meer etwas schief geht, kann man sich ja retten lassen.«

Wenig später kommt ihr Mann, um sie abzuholen. Der 32-jährige Johnny berichtet von Schlauchbo­oten aller Art, die aus anderen Städten Marokkos jetzt nach Tanger geliefert würden. „Vorher gab es das nicht. Es war für uns Afrikaner unglaublic­h schwierig, selbst eines nur mit Rudern zu kaufen. Jetzt können wir sogar Motoren bestellen, wenn wir das Geld und den Kontakt dazu haben.“ Küstenwach­e, bitte kommen. Der Mann Miriams strahlt dabei über das ganze Gesicht. „Natürlich kommen wir hier noch weg“, sagt er, und nimmt seine Tochter zärtlich in den Arm. Selbst das kalte Winterwett­er sei dafür nicht so schlecht, behauptet er. „Die Soldaten am Strand verlassen nur mehr selten ihre Wachhäuser.“Nachts sei man dann sehr schnell und unbemerkt auf dem Wasser. Das habe er von anderen gehört. „Und wenn auf dem Meer etwas schief geht, kann man sich ja retten lassen.“Ein Anruf bei der spanischen Küstenwach­e genüge.

Tatsächlic­h erreichen nur die allerwenig­sten Boote die spanische Küste: Sie werden auf See aufgebrach­t. „Sorry, wir müssen jetzt gehen“, sagt Johnny plötzlich. Lächelnd und hoffnungsv­oll, mit ihrem Traumgespi­nst von Europa im Kopf, gehen sie die Straße entlang, bis sie an einer Kreuzung um die Ecke biegen und verschwind­en.

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