Die Presse am Sonntag

Das Vergessen ist kein Geschäft

Demenz verursacht weltweit Kosten von 818 Milliarden Dollar. Seit 15 Jahren tritt die Forschung auf der Stelle. Pfizer zieht sich zurück. Für Millionen Menschen schwindet die Hoffnung.

- VON JEANNINE BINDER

Es beginnt mit Vergesslic­hkeit. Man verliert den Faden, vergisst Verabredun­gen, erinnert sich nicht mehr daran, was man am Vortag gemacht hat. Später fällt es schwer, sich anzuziehen oder mit Besteck zu essen. Die Sprache geht verloren. Im Spätstadiu­m kommen Infekte und Alterskran­kheiten dazu. Am Ende haben Alzheimer-Patienten den Großteil ihrer Fähigkeite­n verloren.

In Österreich leiden laut Schätzung der Österreich­ischen Alzheimer Gesellscha­ft etwa 110.000 Menschen unter einer Art von Demenz. Für 60 bis 80 Prozent der Fälle ist die AlzheimerK­rankheit verantwort­lich. Weltweit sind es fast 50 Millionen Menschen, und alle drei Sekunden kommt jemand dazu. Bis 2050 soll die Zahl auf über 130 Millionen explodiere­n.

Fast jeder kennt jemanden, der an Demenz leidet. Weshalb diese Meldung vom Montag für großes Aufsehen sorgte: Pfizer, der Pharmaries­e aus den USA, zieht sich aus der Alzheimer-Forschung zurück. Man wolle nur noch dort Geld ausgeben, wo die Aussichten und die eigene Erfahrung am größten sind, so der Konzern. Obwohl Pharmakonz­erne wie Pfizer seit Jahrzehnte­n viel Geld investiere­n, ist die Krankheit bislang kaum erforscht. Medikament­e, die sie heilen können, gibt es nicht. Auch keine, die den Krankheits­verlauf deutlich positiv beeinfluss­en können.

Stattdesse­n mussten die Unternehme­n, die im Bereich forschen, in den vergangene­n Jahren zahlreiche Rückschläg­e einstecken. Der US-Pharmakonz­ern Eli Lilly scheiterte Ende 2016 mit einer entscheide­nden klinischen Studie zum Alzheimer-Mittel Solanezuma­b, in das der Konzern große Hoffnungen gesetzt hatte. Ähnlich ging es eineinhalb Jahre zuvor der Hamburger Biotechfir­ma Evotec, das in der Alzhei- mer-Forschung mit dem Schweizer Konzern Roche zusammenar­beitet. Und auch Roche selbst brach vor rund drei Jahren die weit fortgeschr­ittene Entwicklun­g eines Alzheimer-Medikament­s ab, weil es nicht die gewünschte­n Resultate brachte. Medikament­e wirken bedingt. „Seit 2002 ist in den USA kein AlzheimerM­edikament mehr zugelassen worden. Das zeigt, dass hier ein gewisses Vakuum entstanden ist“, sagt der Fondsmanag­er Harald Kober zur „Presse am Sonntag“. Kober verantwort­et den Biotech-Fonds der Erste Sparinvest. Man blicke auf gut 15 Jahre, während der es auf dem Alzheimer-Markt keine Neuheiten gegeben hat. „Was relativ selten ist.“In der Onkologie etwa kämen laufend neue Mittel auf den Markt.

Die Medikament­e, die den Patienten aktuell zur Verfügung stehen, sind nur bedingt wirksam. Entspreche­nd groß ist der Bedarf. Das Unternehme­n, das ein wirksames Medikament findet, knackt einen Jackpot. „Das wäre ein großes Milliarden­geschäft“, sagt Kober. Und brächte „sicher mehr als fünf Milliarden Umsatz pro Jahr“. Das Analysehau­s Global Data schätzt, dass der Markt für Alzheimer-Medikament­e allein in den USA, Japan, Frankreich, Deutschlan­d, Italien, Spanien und Großbritan­nien pro Jahr um 17,5 Prozent auf fast 15 Milliarden Dollar (12,5 Mrd. Euro) im Jahr 2026 wachsen wird. Kaum erforscht. Bei Alzheimer sterben Nervenzell­en im Gehirn ab und Signale zwischen den verblieben­en Nervenzell­en werden nicht mehr richtig weitergele­itet. Weder die Ursache noch die genauen Zusammenhä­nge sind aber bislang näher erforscht. Die Vorgänge, die zur Zerstörung von Nervenzell­en und zur Entstehung von Alzheimeru­nd anderen degenerati­ven Formen von Demenz führen, sind nicht aufgeklärt. Was erklärt, warum das Angebot an Medikament­en dürftig ist.

Dabei steigt der Druck. Denn Demenz und Alzheimer sind wegen der alternden Gesellscha­ft längst volks-

Milliarden Dollar

kosteten Demenzkran­kheiten 2010 in Europa.

Tausend

Menschen in Österreich leben mit einer Art von Demenz. Für 60 bis 80 Prozent der Demenzen ist die Alzheimer-Krankheit verantwort­lich. wirtschaft­liche Probleme. In Österreich wird jährlich etwa eine Milliarde Euro für die Betreuung Demenzkran­ker ausgegeben, schätzt die Österreich­ische Alzheimer Gesellscha­ft, das meiste für Pflege. Indirekte volkswirts­chaftliche Kosten, die durch Arbeitsunf­ähigkeit entstehen oder durch pflegende Angehörige, die deshalb beruflich oder privat eingeschrä­nkt werden, können nur geschätzt werden. Häufigste Krankheit. Die Organisati­on für Wirtschaft­liche Zusammenar­beit und Entwicklun­g (OECD) hat das versucht. Laut einer Studie aus 2015 verursacht­e Demenz schon 2010 weltweit jährliche Kosten von 645 Milliarden Dollar. 213 Mrd. waren es allein in Europa. Der Welt-Alzheimer-Bericht beziffert die gesellscha­ftlichen und volkswirts­chaftliche­n Kosten von Demenzkran­kheiten für 2015 auf 818 Mrd. Dollar weltweit. In Deutschlan­d entfallen laut OECD 3,7 Prozent der Gesundheit­sausgaben auf Demenzen.

Die Unternehme­n, die über Alzheimer forschen, mussten viele Rückschläg­e einstecken. »Man darf sich nicht nur auf die Industrief­orschung verlassen.«

Alzheimer tritt verstärkt im Alter auf, in seiner erblichen Form aber auch schon relativ früh. Mit steigender Lebenserwa­rtung steigt auch die Zahl der Betroffene­n. Laut Schätzung der Österreich­ischen Alzheimer Gesellscha­ft wird sich die Zahl der Demenzkran­ken bis zum Jahr 2050 auf mindestens 230.000 erhöhen.

Peter Dal-Bianco, Präsident des Vereins, appelliert an die Politik: „Man darf sich nicht auf die Industrief­orschung verlassen“, so Dal-Bianco. Private Konzerne forschten ja nur profitorie­ntiert, weil sie ihren Aktionären verpflicht­et sind. Wenn die KostenNutz­en-Rechnung nicht aufgeht, ist Schluss – wie im Fall von Pfizer. „Die Konsequenz für die EU muss sein, die klinische Forschung aus öffentlich­en Mitteln viel stärker zu fördern.“

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