Narziss, Goldmund, Possenreißer
Jeffrey Archer. Begegnung mit dem britischen Bestsellerautor und Lord, der für die Konservativen im Parlament saß. »Im Grunde bin ich ein Prolo, im Herzen ein Sozialist«, sagt er.
Man muss dort gewesen sein, um sicher zu sein, dass ein Ort wie dieser existiert. Der livrierte Portier führt zum Privataufzug, der direkt in die oberste Etage führt. Hier, über den Dächern von London, wohnt, nein: residiert in einem Penthouse der britische Schriftsteller Jeffrey Archer, mit Blick über das Hauptquartier des benachbarten Geheimdienstes MI6, das Parlament und Big Ben. Die träge Themse scheint Spielzeugboote zu tragen, während die Wintersonne durch die riesigen Fensterfronten blinzelt.
Die Wände schmücken Kunstwerke von Monet, Picasso und Warhol, wie sie sich führende Museen nur wünschen können. Der Kaffeetisch hat die Dimensionen eines kleinen Fußballfelds und ist mehrlagig mit teuren Bildbänden belegt. Alles funkelt und blitzt. Jeden Augenblick rechnet der Besucher damit, dass ein Bond-Bösewicht den riesigen Raum betritt, mit einem coolen Drink in der einen Hand und einer lässigen Blondine an der anderen. Auf dem Thron. Dabei sitzt die Hauptperson längst in ihrem Stuhl, nein: Thron vor der Fensterfront und sagt von sich: „Im Grunde bin ich ein Prolo und in meinem Herzen ein Sozialist.“Er lacht, wie so oft. Denn Jeffrey Archer will vor allem eines: unterhalten und unterhalten werden. Dieses Talent hat ihn zu einem der populärsten Autoren unserer Zeit gemacht: „Das einzige Buch der Gegenwart, das mit mir mithalten kann, ist ,Wer die Nachtigall stört‘“, sagt er. Sein Klassiker „Kain und Abel“, in dieser Woche wieder neu auf Deutsch erschienen, hat mittlerweile 100 Auflagen erlebt. „Das hat bisher kein lebender Autor geschafft“, behauptet er.
Nur J. K. Rowling verkauft in Großbritannien mehr Bücher. „Ich hasse sie“, sagt Archer, und fügt lachend hinzu: „Das ist ein Scherz. Sie ist eine großartige Autorin.“Während des Gesprächs kontrolliert er auf seinem Mobiltelefon unablässig die Bestsellerlisten: „Heute Morgen waren meine Bücher auf den Plätzen 19, 31, 32, 35 und 37.“Insgesamt hat Archer etwa 350 Millionen Bücher verkauft – genau kann das niemand sagen – und mehr Geld verdient, als er selbst zu wissen vorgibt. Was bringt ihn dazu, weiter mit militärischer Disziplin jeden Tag um sechs Uhr früh mit dem Schreiben zu beginnen und in zweistündigen Intervallen bis zum Abend an seinem nächsten Werk zu arbeiten? „Was für eine unsinnige Frage“, brüllt er mit gestelltem Entsetzen. „Ich muss immer weitermachen, denn ich will die Nummer eins sein.“Ziel sei es, dass „jedes neue Buch besser als das vorangegangene ist“.
Von sich selbst sagt er, dass er ein Geschichtenerzähler sei, („Das Talent hat mir Gott gegeben“), nicht jedoch ein großer Schriftsteller. Aber: „Nadine Gordimer meinte einmal zu mir: „Ich habe den Nobelpreis. Aber könnte ich bitte ein paar deiner Leser haben?“
Ein Geschichtenerzähler und Aufschneider ist Archer auch in seinem Leben gewesen. „Ich komme aus dem Nichts“, sagt er. Sein Vater war ein verurteilter Betrüger und Hochstapler. Archer junior war mit der Wahrheit oft nicht weniger großzügig, bis heute verfolgen ihn zahllose Gerüchte und düstere Ränke. Mit 29 Jahren zog der gebürtige Londoner für die Konservativen ins Parlament, fünf Jahre später rettete ihn sein erster Roman vor dem Bankrott unter fragwürdigen Umständen. Archer wurde dennoch ein enger Freund der Tory-Premiers Margaret Thatcher (1979 bis 1990) und John Major (1990 bis 1997). Allerhand Affären und Lügen bedeuteten aber schließlich das Ende seiner politischen Ambitionen.
Seine Frau, Mary, eine Chemikerin und heute Vorsitzende des Londoner Science Museum, mit der Archer seit 1966 verheiratet ist, stand unverrückbar zu ihm, auch wenn sie einmal sagte: „Wir haben das Versprechen ,In guten wie in schlechten Zeiten’ ziemlich weit ausgereizt.“2001 wurde Archer nach einer Affäre mit einer Prostituierten wegen Meineids zu vier Jahren Haft verurteilt, von denen er zwei absaß. Nur im politischen System Großbritanniens ist es wohl möglich, dass er bis heute seinen 1992 verliehenen Sitz im House of Lords innehat. Weiterhin trifft er sich regelmäßig mit der politischen Elite.
Und wohl nur jemand wie Lord Archer, der im April 78 Jahre alt wird, konnte sich im Gefängnis gleichsam neu erfinden. Seine Hafttagebücher wurden Bestseller, dann schrieb er die siebenteilige „Clifton-Saga“, derzeit werkt er an einem Roman, der im November erscheint. Wie immer schreibt er alles mit der Hand und macht bis zu 14 Entwürfe, ehe eine maschinelle Abschrift erfolgt. Er arbeitet mit eiserner Disziplin. „Ich glaube, es wird mein bestes Buch. So was werde ich nie wieder schaffen. Ich werde zu alt.“
Ein Geschichtenerzähler, kein Schriftsteller: »Ich will die Nummer eins sein.«
»Ich bereue absolut nichts.« Archers Bücher sind schnell, packend und wahre „page-turner“. Wer psychologische Studien bevorzugt, ist bei Marcel Proust besser aufgehoben. Gern aber zitiert Archer dessen Diktum: „Wir enden alle damit, das zu tun, was wir am zweitbesten können.“Was Archers größtes Talent gewesen wäre? „Ich war ein Läufer, gut genug, um für mein Land anzutreten, aber nicht, um zu gewinnen.“Und als Politiker? „Vielleicht wäre ich ein guter Minister gewesen. Doch heute wäre ich längst vergessen.“
Hätte er nicht als Aufschneider und Geschichtenerzähler reüssiert, Archer hätte auch große Chancen als Schau-