Die Presse am Sonntag

Diese 5000 Jahre in uns allen

Das älteste Großepos der Welt als Comic: Jens Harders Version des Gilgamesch-Zyklus – wie man Nähe schafft, indem man die Distanz nicht verleugnet.

- VON WOLFGANG FREITAG

Es sind schon Hausherren gestorben“, sagt man in der Wiener Vorstadt gern, will man auf die Vergänglic­hkeit von Größe verweisen, sei es zum Trost, weil man seinerseit­s kein Hausherr ist, sei es als Mahnung, dass selbst Hausherren­Bäume, ein weiteres einschlägi­ges Bild, nie in den Himmel wachsen. Und mag es noch so verführeri­sch erscheinen, sich an der eigenen Größe, in unserem Fall jener der westlichen Zivilisati­on, immer wieder zu berauschen: Ein Blick in die trübe Gegenwart vormaliger „Wiegen der Menschheit“lässt uns rasch der Triftigkei­t der Wiener Vorstadtph­ilosophie einsichtig werden – wie der Nichtigkei­t kulturelle­r und politische­r Selbstüber­hebung.

Dergleiche­n kommt in den Sinn, nimmt man Jens Harders Comicadapt­ion des Gilgamesch-Epos zur Hand: Gleich zu Beginn schält sich auf einer ganzen Seite die Landschaft des Geschehens aus einer erst ungeformte­n, dann Bild für Bild Form annehmende­n Vogelschau auf das Terrain, als würde man Zeuge eines Äonen währenden geologisch­en Vorgangs, jene Gefilde schaffend, die uns heute als Heimstatt der ältesten Hochkultur­en dieser Welt gelten: das Zweistroml­and rund um Euphrat und Tigris. Quasi in seinem Herzen wiederum: jenes Uruk, das gern als erste „Megacity“des Uraltertum­s gesehen wird und heute wenig mehr als ein paar kümmerlich­e Trümmer in einer graubraune­n Einöde ist, im Südosten eines Staates, dessen Gegenwart in unseren Köpfen einzig mit Krieg und Zerstörung, aber gewiss nicht mit Hochoder womöglich Höchstkult­ur verbunden wird – des Irak.

Von Aufstieg und Untergang erzählt auch der Gilgamesch-Zyklus selbst, das erste Großepos der Weltlitera­tur, in seiner geläufigst­en Form gut 3000 Verse schwer, versammelt auf zwölf Tafeln, die freilich selbst in der vollständi­gsten Version, der akkadisch-ninivitisc­hen, nur bruchstück­haft aus dem siebenten vorchristl­ichen Jahrhunder­t auf uns gekommen sind. Genauer aus der Bibliothek des Assyrer-Königs Assurbanip­al, der seinerseit­s nur festhalten ließ, was ein Dichter ein weiteres halbes Jahrtausen­d früher geschriebe­n hatte. Der wiederum auf Erzählunge­n referieren­d, die uns bis ins dritte vorchristl­iche Jahrtausen­d verweisen.

An dessen Anfang wäre auch – falls es ihn tatsächlic­h gegeben hat – jener König Gilgamesch anzusiedel­n, um dessen Leben und Sterben das Epos kreist. Zwei Drittel Gott, ein Drittel Mensch, herrscht Gilgamesch über Uruk in unumschrän­kter Macht- und Prachtentf­altung. Was die Dichtung über ihn selbst, über seine Taten, seine Freundscha­ft mit dem aus Erde geformten Gefährten Enkidu, Enkidus Tod und Gilgamesch­s Leiden an der Erkenntnis auch eigener Endlichkei­t berichtet, hat in der Literatur des Altertums tiefe Spuren hinterlass­en. Und seit ihrer Wiederentd­eckung Mitte des 19. Jahrhunder­ts die Fantasie einer längst unüberscha­ubaren Zahl von Deutern entzündet.

Doch egal, ob man die Verse primär rund um das Thema Frauenlieb­e versus Männerfreu­ndschaft, ums Erwachsenw­erden, um den Konflikt zwischen Kultur und dem Naturgegeb­enen, um das Auseinande­rdriften unterschie­dlicher Wertvorste­llungen oder – und das ist ja unbestreit­bar – um unser aller Ringen mit eigener Sterblichk­eit kreisen sieht: Ihr Alter von knapp 5000 Jahren wird ihnen immer eigen sein und eigen bleiben, mag man sie noch so sehr der Ge- genwart eingemeind­en wollen. Nicht dass die angesproch­enen Aspekte des Geschehens je vergänglic­h wären: Vergänglic­h und also zeitlicher Wandelbark­eit unterworfe­n freilich bleibt, in welchen konkreten Handlungen, in welchem gesellscha­ftlichen Umfeld, im Rahmen welches Weltbilds sie sich äußern. So wäre eine Art ritualisie­rtes Jus primae noctis, wie es Gilgamesch­s Uruk kennt, nicht erst in Zeiten von MeToo doch recht befremdlic­h, der kaltblütig­e Mord an einem im Grunde unbescholt­enen, wenngleich dämonische­n Riesen heutigem Verständni­s nach eher keine Heldentat, vom mutwillige­n Fällen einer Riesenzede­r ganz zu schweigen. Schlichte Erdfarben. Jens Harder versucht erst gar nicht, als gegenwärti­g zu präsentier­en, was doch in vielen Äußerlichk­eiten bestenfall­s archaisch-symbolisch, häufiger einfach und – zum Glück – vergangen ist. Schließlic­h habe er, hält er in einer Nachbemerk­ung fest, die „mythische Zeit der Entstehung des Epos“genauso bedenken wollen wie die „Ehrfurcht vor diesem einzigarti­gen Schatz“. Also folgt er in seiner zeichneris­chen Gestaltung dem historisch­en Vorbild von Wandrelief­s, wie sie aus dem alten Assyrien dokumentie­rt sind, taucht das Geschehen in schlichte Erdfarben, verzichtet auf sonst Comic-notorische Elemente wie Sprechblas­en oder die Integratio­n von Text in die Bildfläche­n. Von Zacks und Bums gar nicht zu reden. Eine Darstellun­gsweise, die den

„Gilgamesch“

in der Comicadapt­ion von Jens Harder ist im Carlsen-Verlag, Hamburg, erschienen (144 S., geb., € 25,70). Armenbibel­n des Mittelalte­rs mit ihren knapp kommentier­ten Bildfolgen näher ist als dem, was unser Bewusstsei­n allgemein in der Abteilung Comic abzulegen pflegt: Der Text, aufs Wesentlich­ste konzentrie­rt, begleitet Bild für Bild als epische Erläuterun­g, getrennt vom Geschehen und doch Teil des Ganzen. Und auch in seiner textlichen Gestaltung orientiert sich Harder eher an

3000 Verse auf zwölf Tafeln, verwurzelt in der ersten Megacity des Zweistroml­ands. Jens Harder versucht erst gar nicht, als Gegenwart zu präsentier­en, was vergangen ist.

Übersetzun­gen älteren Datums als an Neuerem, selbst wenn die Texte, wie er einbekennt, dadurch „etwas gestelzt oder ungelenk daherkomme­n“: ist doch das Kenntlichm­achen zeitlicher Distanz und nicht ihr Verwischen sein kompositor­isches Credo. Damit wiederum schafft er genau jene Distanz, die hinter manch befremdlic­hem Detail das große Ganze sichtbar werden lässt: Nein, dieser Gilgamesch ist keiner von uns – und uns doch in seiner grenzenlos­en Lebensgier, in seinem verzweifel­ten Ringen um Erfüllung im Hiesigen, in seiner unstillbar­en Sehnsucht nach Unsterblic­hkeit ähnlicher, als uns lieb sein kann.

Das große Uruk gibt es längst nicht mehr, seine mächtigen Mauern, vor Jahrtausen­den schon sind sie gefallen. Sein Erbe freilich lebt bis zum heutigen Tag – in jedem von uns.

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An altassyris­chen Wandrelief­s orientiert: aus Tafel VII von Jens Harders „Gilgamesch“.
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