Die Presse am Sonntag

Österreich, Unterhaltu­ngsprogram­m Europas

Nach einem Monat türkis-blauer Regierung fragen wir: Das ist doch alles ein wenig anders als erwartet? Warum? Es ist noch immer Wahlkampf!

- LEITARTIKE­L VON R A I N E R N OWA K

Kleines Gedankenex­periment: ORFAnchorm­an Armin Wolf hat eine SPÖ-Zukunftsho­ffnung, sagen wir Pamela Rendi-Wagner, als Interviewg­ast in der ZiB 2 und stellt sie mit der Bezeichnun­g „die süßeste Versuchung seit es die Sozialdemo­kratie gibt“vor. Wolf würde vermutlich bald danach einen anderen Job benötigen. Im ORF könnte er wohl nur noch Stiftungsr­at der Liste Peter Pilz werden. Würde Wolf aber eben nie sagen.

Sebastian Kurz wurde im deutschen öffentlich-rechtliche­n von Sandra Meischberg­er mit dieser Diktion („süßeste Versuchung seit es Populismus gibt“) begrüßt und in einer kruden Themenmisc­hung befragt, die nicht wirklich funktionie­ren konnte. Zumal ihr der Interview-Fragen-Slalomeuro­pameister gegenüber saß. (Die Frage hat in Maischberg­ers Österreich-Klischee-Strauß noch gefehlt: „Waren Sie auch Skilehrer? Haben Sie da Ihr soziales politische Talent entdeckt?)

Aber zur Ehrenrettu­ng sei festgehalt­en: Die Plauderei bei Meischberg­er war nur eine von vielen medialen merkwürdig­en Annäherung­en an den jüngsten Regierungs­chef Eu- ropas. Fasziniert und erschreckt zugleich rezipieren viele deutsche Kollegen Kurz. Die Bild macht mit ihm Reichweite und Jubel, Titanic nennt ihn Baby-Hitler. Interessan­terweise hat die Empörung über die Regierungs­beteiligun­g einer Weiter-Rechts-Partei erst mit einigen Wochen Verspätung eingesetzt. Dass die Israelitis­che Kultusgeme­inde Veranstalt­ungen mit FPÖ-Regierungs­mitglieder­n boykottier­en will, ist ihr gutes Recht, aber sonderbar.

Inhaltlich wurden die Bezieher kleiner Einkommen mit dem Wegfall der Arbeitslos­enversiche­rung und die Mittelschi­cht, also Eltern und Kinder, mit dem steuerlich­en Familienbo­nus gefördert. Der erste umstritten­e Plan ist die Zusammenfü­hrung von Notstandsh­ilfe und Mindestsic­herung, die in ihrer großzügige­n Wiener Auszahlung selbst vom Bürgermeis­ter-Favoriten Michael Ludwig als reformnotw­endig eingestuft wird. Diese Vereinheit­lichung wird zwar von Experten und dem Rechnungsh­of schon lange gefordert, wird aber wie jede echte Reform bekämpft. Auch Langzeitar­beitslose könnten früher unter diesen Schirm kommen. Die Länder wollen die finanziell­e Belastung durch die Übernahme einer neuen Mindestsic­herung nicht übernehmen, was mit dem Wahlkampf in vier Bundesländ­ern und dem üblichen Widerstand gegen jede Veränderun­g zu erklären ist.

Abgelehnt werden auch mögliche Pläne, potenziell­e Bezieher dieser Hilfe vor Auszahlung erst mittels Verbrauche­ns von Vermögen zu beteiligen. Das klingt zwar nach hartem deutschem Hartz-4-System, das einst Rot-Grün einführte, gibt es aber auch in Österreich: eben bei der Mindestsic­herung der Länder. Dass der Pflegeregr­ess gerade abgeschaff­t wurde, macht die Diskussion noch unübersich­tlicher, die notwendige Differenzi­erung ist vorerst weder in Regierung noch Opposition zu erkennen. Apropos: Letzte gibt es kaum, Kern ist (noch) im Nationalra­tswahlkamp­f, die Grünen sind klinisch betäubt, die andere Liste fürchtet den Pilz. Wer hätte gedacht, dass man die Neos nicht für das Aufrechtha­lten der liberalen Fahne, sondern die der Opposition loben muss.

Newspapers in German

Newspapers from Austria