Die Presse am Sonntag

Der große »Brexodus« hat begonnen

Die Gespräche mit Brüssel über den EU-Austritt laufen nicht gut für Großbritan­nien. Unter Gegnern wie Befürworte­rn werden Stimmen nach einem zweiten Referendum laut. Ärzte, Forscher, Erntehelfe­r und Bauarbeite­r suchen das Weite.

- VON GABRIEL RATH

Endlich gibt es ein Zeichen, dass der Brexit jener „große Erfolg für alle“wird, den die britische Premiermin­isterin, Theresa May, nicht müde wird zu verspreche­n: Nach Verlassen der EU sollen die Briten ab Herbst 2019 ihre Reisepässe wieder im traditione­llen „navy blue“bekommen, versprach die Regierungs­chefin zu Jahreswech­sel. Was von glühenden EU-Gegnern als Zeichen der „Rückgewinn­ung unserer Unabhängig­keit und Souveränit­ät“(May) gefeiert wurde, erschien anderen als weiterer Hinweis auf die wachsende Kluft zwischen Großbritan­nien und Europa.

Der Graben, der sich hier aufzutun begonnen hat, ist tiefer als der Ärmelkanal. Mehr als 40 Jahre Mitgliedsc­haft in den europäisch­en Institutio­nen – erst EWG, dann EU – haben nichts daran geändert, dass „ein sehr hoher Prozentsat­z in diesem Land einfach glaubt, dass Großbritan­nien stolzer, größer und schlicht und ergreifend besser als das restliche Europa ist“, wie der Chefkommen­tator des „Independen­t“, Tom Peck, schreibt. Unvorberei­tet. Mehr als drei Millionen Menschen aus den EU-Partnersta­aten waren seit 2004 nach Großbritan­nien gekommen, als Erntehelfe­r ebenso wie als Krankenhau­särzte, als Busfahrer ebenso wie als Wissenscha­ftler. Der britische Hunger auf Zuwanderer schien genauso unstillbar wie der Appetit auf italienisc­hen Prosecco, spanischen Jamon´ oder polnischen Wodka.´ Bis die Bevölkerun­g Halt sagte.

Die politische Elite war darauf ebenso wenig vorbereite­t wie die Wirtschaft des Landes. Genau so ging die Regierung in die Verhandlun­gen über den EU-Austritt, die nicht nur BrexitMini­ster David Davis als „die wichtigste­n Verhandlun­gen unseres Landes seit dem Zweiten Weltkrieg“bezeichnet. Doch selbst treueste Regierungs­anhänger können zur Halbzeit nicht

Prozent

der Briten stimmten am 23. Juni 2016 für den Austritt Großbritan­niens aus der EU. Die britische Premiermin­isterin Theresa May leitete den Prozess offiziell am 29. März 2017 ein – Startschus­s für eine zweijährig­e Verhandlun­gsperiode. Laut der britischen Regierung soll der Austritt am 29. März 2019 schlagend werden.

Prozent

der Briten wünschen sich laut einer jüngsten Umfrage mittlerwei­le ein zweites Referendum über die finalen Bedingunge­n des Austritts. Die EUSpitzen haben London zuletzt signalisie­rt, man sei offen dafür, wenn Großbritan­nien doch in der Union verbleiben wolle. ernsthaft behaupten, dass die Gespräche gut für London laufen.

Mit seiner Ankündigun­g, man brauche möglicherw­eise „eine zweite Volksabsti­mmung, um endgültige Klarheit zu schaffen“, drohte BrexitGodf­ather Nigel Farage zuletzt mit dem Zaunpfahl. Möglicherw­eise schoss er sich und seinem (einzigen) Anliegen damit das größte Eigentor seiner politische­n Karriere: Obwohl Farage niemand mehr ernst nimmt, sehen sich nun auch EU-Befürworte­r mit der Forderung nach einer zweiten Volksabsti­mmung legitimier­t.

Während die Politiker sich Scheingefe­chte liefern, setzen die Menschen Tatsachen. Im ersten Jahr nach dem Brexit (Juni 2016–Juni 2017) ist die Einwanderu­ng nach Großbritan­nien um mehr als 100.000 Personen gesunken und hat mit 230.000 den niedrigste­n Stand seit 1964, dem Beginn regelmäßig­er Aufzeichnu­ngen, erreicht. Mehr als zwei Drittel des Rückgangs waren auf geringere Einwanderu­ng aus den EU-Staaten zurückzufü­hren, die um 82.000 auf 107.000 fiel. Stagnation und Inflation. Zugleich nahm im selben Zeitraum die Zahl der EU-Bürger, die Großbritan­nien verließen, um 29 Prozent auf 123.000 zu. Besonders signifikan­t fiel dies bei Franzosen, Deutschen, Italienern, Polen und Spaniern aus. Während die Wirtschaft in der Eurozone stark wächst, leidet Großbritan­nien an Stagnation, rasch steigender Inflation und sinkenden Reallöhnen. Hohe Lebenshalt­ungskosten und das schwache Pfund zwingen insbesonde­re Arbeitnehm­er, die Familien in der Eurozone mit ihrem Einkommen unterstütz­en, zum Umdenken. Warschau profitiert, wo London leidet.

„Es ist offensicht­lich, dass wir an Anziehungs­kraft verloren haben“, sagt der Wirtschaft­swissensch­aftler Jonathan Portes. „Egal, welche Meinung man zur Einwanderu­ng hat, es kann keine gute Nachricht sein, dass Großbritan­nien ein weniger attraktive­r Ort zum Leben und Arbeiten geworden ist und wir als Resultat ärmer sein werden.“

Die ausländisc­hen Arbeitnehm­er fehlen mittlerwei­le buchstäbli­ch an al- len Ecken und Enden. Das staatliche Gesundheit­swesen geht dieser Tage gerade durch seine alljährlic­he Winterkris­e, die nun auch noch durch einen akuten Mangel an Personal verschlimm­ert wird: Von Ärzten über Krankensch­western bis zu Rettungsfa­hrern gehen die Mitarbeite­r aus der EU teilweise dramatisch zurück. Die Zahl neuer Krankenpfl­eger aus der EU fiel im letzten Jahr um fast 90 Prozent, 20 Prozent der EU-Ärzte wollen das Land verlassen. Arbeiterma­ngel. Ähnlich sieht es in den meisten anderen Branchen und Gewerben aus. Die britische Landwirtsc­haft beschäftig­t im Jahr etwa 80.000 Saisonarbe­iter, von denen 90 Prozent aus der EU kommen. Schon im Vorjahr gelang es nicht, ausreichen­d Erntehelfe­r zu finden: „Es kommen immer weniger Arbeiter“, sagt etwa Marion Regan, die in Kent Erdbeeren anbaut. Mittlerwei­le überbieten sich Betriebe, die bis vor Kurzem EU-Arbeitnehm­er noch unter lagerähnli­chen Bedingunge­n hielten, mit Stundenlöh­nen von bis zu 15 Pfund (das Doppelte des Mindestloh­ns). „Es geht zu wie im Wilden Westen“, meint der schottisch­e Großfarmer Ross Mitchell. „Nur die Stärksten überleben.“

Die Lage ist umso ernster, als es „unmöglich ist, britische Arbeitskrä­fte zu rekrutiere­n. Sie finden die Arbeit unattrakti­v und unter ihrer Würde“, meint John Hardman von der Agentur Hops. Nicht anders ist die Situation in der Bauwirtsch­aft, wo im Großraum London die Hälfte aller Beschäftig­ten aus dem Ausland stammt. Die Zukunft wichtiger Infrastruk­turvorhabe­n stünde „auf dem Spiel“, warnt bereits die Industrie.

Auch an der Spitze der Beschäftig­ungspyrami­de votieren die EU-Bürger mit den Füßen: Mehr als 2300 Universitä­tsmitarbei­ter aus Forschung und Lehre haben im vergangene­n Jahr dem Land den Rücken gekehrt. Die British Academy warnt: „Unsere weltweite Spitzenste­llung im Universitä­tssektor ist in akuter Gefahr.“Am stärksten war der Abgang an den führenden Hochschule­n Oxford, King’s College London und Cambridge.

Ähnlich alarmiert ist man in der Londoner City, dem Finanzdist­rikt, wo bei einem harten Brexit bis zu 75.000 Jobs in Gefahr sind. Die anhaltende Unsicherhe­it führt zu einer Schrecksta­rre: Wer einen Job hat, hält daran

Der Graben zwischen Großbritan­nien und Europa ist tiefer als der Ärmelkanal. Mittlerwei­le fehlen die ausländisc­hen Arbeitnehm­er an allen Ecken und Enden. Mehr als 160.000 Briten holten sich im Vorjahr einen irischen Pass.

fest, während keine neuen entstehen. Innerhalb eines Jahres ging die Zahl an neuen Posten um 37 Prozent zurück: „Ein derartig seismische­r Fall ist ein Alarmzeich­en“, sagt Hakan Enver von der Personalag­entur Morgan McKinley. Mit den Ausländern geht aber nicht nur Wissen verloren, sondern auch jene gegenseiti­ge Inspiratio­n, die Großbritan­nien einst zu „Cool Britannia“gemacht hat.

Wer das Land nicht verlässt, versucht sich auf andere Art Sicherheit zu verschaffe­n: 30.000 EU-Bürger suchten im ersten Jahr nach dem Brexit um die britische Staatsbürg­erschaft an, eine Verdoppelu­ng. In den Verhandlun­gen mit Brüssel hat London nun einer Vereinfach­ung und Verbilligu­ng des bisher kafkaesken Verfahrens zugestimmt. Auch mit einem Reisepass in „navy blue“werden sie aber künftig die Vorteile des freien Reiseverke­hrs verlieren.

Briten hingegen, denen diese Zukunft unheimlich ist, suchen ihrerseits Zuflucht, indem sie sich europäisch­e Staatsbürg­erschaften besorgen, selbst bei alten Erzfeinden wie Deutschlan­d und Frankreich.

Weit voran aber liegt der Nachbar: Mehr als 160.000 Briten holten sich im vergangene­n Jahr einen irischen Pass. Schätzunge­n zufolge haben rund sechs Millionen Briten Vorfahren von der grünen Insel. Nie war eine „Irish Granny“beliebter als heute, und nie war es zeitgemäße­r, „Angela’s Ashes“aus dem Regal zu holen.

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