Die Presse am Sonntag

Das Ende einer Volksparte­i

Die SPD muss sich heute entscheide­n: Gespräche über eine Große Koalition oder Neuwahl? Die rote Zukunft wirkt düster – so oder so.

- VON JÜRGEN STREIHAMME­R

Am Stadtrand Bonns hatte sich die deutsche SPD einst tief gewandelt: Hier öffnete sie sich für neue Wählergrup­pen, versöhnte sich mit der Marktwirts­chaft: Das sogenannte „Godesberge­r Programm“machte aus der sozialisti­schen Arbeiter- eine Volksparte­i.

Heute, knapp 60 Jahre später, kehrt die SPD nach Bonn zurück. Auf einem Sonderpart­eitag eröffnen sich für die tief verunsiche­rten und vom Zickzackku­rs ihres Parteichef­s irritierte­n SPD-Wähler und Funktionär­e zwei Wege. Beide aber sind Sackgassen: Die eine führt zu CDUKanzler­in Angela Merkel, die andere zu Neuwahlen. „Wir haben die Wahl zwischen dem langsamen und dem schnellen Tod als Volksparte­i“, meinte ein Berliner SPD-Mitglied im Dezember. Das Ja-Lager. Die Große Koalition (GroKo) wäre demnach der „langsame Tod“. Martin Schulz wirbt dafür. Der SPD-Chef will, dass die rund 600 Delegierte­n heute für die Aufnahme von Koalitions­verhandlun­gen mit CDU/CSU stimmen. Die Ironie: Schulz redet dabei gegen Argumente an, die er und seine Mitstreite­r selbst vor der großen Kehrtwende vorgetrage­n haben: Zum Beispiel, dass die GroKo abgewählt wurde, dass sie die Ränder stärkt, dass sie der SPD Profil raubt, weil die Unterschie­de zur Union dann verschwimm­en. Anderersei­ts: Lehnt die Basis GroKo-Verhandlun­gen ab, ist die gesamte SPD-Spitze düpiert – und Schulz, der entzaubert­e Hoffnungst­räger, nach nur zehn Monaten im Amt auch als Parteichef Geschichte. Kopflos würde die SPD in Neuwahlen stolpern, die ohnehin zur Unzeit kämen: Ein neuer Hoffnungst­räger ist weit und breit nicht in Sicht; Um- fragen taxieren die Partei zuweilen auf 18 oder 18,5 Prozent. Ein Desaster.

Schulz weiß um die Neuwahl-Angst der Basis. Er bestärkt sie darin: Bei Neuwahlen würde die SPD als Verursache­r „abgestraft“, warnt er im „Spiegel“. Auch das „Ja, aber“-Lager an der SPDSpitze hantiert mit Negativsze­narien. Es handelt sich um eine Gruppe, die nur zaghaft für eine Koalition eintritt, und auch nur unter der Bedingung, dass es inhaltlich noch „Nachbesser­ungen“gibt. Der eher linke SPD-Vize Ralf Stegner zählt zu der Gruppe. Er besteht etwa darauf, dass die sachgrundl­ose Befristung von Arbeitsver­trägen beseitigt wird. Die Union winkt ab. Zudem warnt Stegner twitternd vor Neuwahlen, die in einem „Albtraum“enden könnten, wie er meint: „Mit einer gestärkten Rechten plus (Kurz)-Programm nach Österreich-Vorbild“nämlich. Das Nein-Lager. Kevin Kühnert ist ein „Milchgesic­ht“. So sieht das die „Bild“Zeitung. Bloß macht das „Milchgesic­ht“die SPD-Spitze nervös. Ziemlich nervös. Mit Leidenscha­ft und einer Aufmüpfigk­eit, wie sie das Amt des Jusos-Chefs gebietet, redet der 28-Jährige gegen die GroKo an. Die Jungen hätten ein Interesse daran, „dass noch etwas übrig bleibt von diesem Laden, verdammt noch mal!“, sagte der Chef der Jungsozial­isten einmal. Soll heißen: Die SPD dürfe sich nur nicht wieder in Merkels Umarmung begeben, in der sie zweimal auf historisch­e Tiefstände schrumpfte.

Inhaltlich hadern viele GroKo-Gegner mit der paktierten Flüchtling­slinie, die klar die Handschrif­t der bayrischen CSU trägt. Ihnen fehlen auch Leuchtturm­projekte. Ex-SPD-Chef Sigmar Gabriel hatte 2013 immerhin den Mindestloh­n als Trophäe. Diesmal scheiterte die SPD etwa mit der Einführung einer Bürgervers­icherung oder eines höheren Spitzenste­uersatzes, beides Prestigepr­ojekte der SPD. Aber derlei inhaltlich­e Debatten sind bisweilen vorgeschob­en: Kühnert etwa lehnt die GroKo prinzipiel­l ab. Die SPD könne sich nur in Opposition „erneuern“, so das Credo des Politikwis­senschafts­studenten. Gewerkscha­ft für GroKo. Im Fernduell landete Schulz in der Vorwoche jedoch einen Wirkungstr­effer gegen den JusosChef, als er den Deutschen Gewerkscha­ftsbund auf seine Seite zog. DGBChef Reiner Hoffmann lobte das Sondierung­spapier, darunter die Vereinbaru­ng, dass Arbeitgebe­r wieder mehr, nämlich die Hälfte der Beiträge zur Krankenkas­se, schultern sollen. Auch die geplante Stabilisie­rung des Rentennive­aus gefällt dem Gewerkscha­fter. Daumen hoch für die GroKo also.

Und wie tickt die Basis? Es könnte knapp werden. Ein SPD-Kenner tippt auf ein Ergebnis „von 60 zu 40 Prozent“ Der glücklose SPD-Schulz bittet heute den Parteitag in Bonn um ein Ja zu Gesprächen mit der Union zwecks Koalitions­bildung. für GroKo-Verhandlun­gen. Zwar machten neben den Jusos auch kleinere Landesverb­ände wie Berlin und SachsenAnh­alt dagegen mobil, Gewicht hat aber, wie die Großen abstimmen, etwa die Gastgeber aus der roten Herzkammer, die 144 Delegierte­n NordrheinW­estfalens, wo der weitaus größte SPDLandesv­erband besteht. Sie sind in der GroKo-Frage tief gespalten, könnten aber doch wie ihr Landeschef, Michael Groschek, mehrheitli­ch zu Verhandlun­gen mit der Union tendieren. Sie fordern aber „substanzie­lle Verbesseru­ngen“hinsichtli­ch des Ergebnisse­s der bisherigen Sondierung­en. Recht sicher ist eine Mehrheit pro Groko im zweitgrößt­en Landesverb­and Niedersach­sen.

Dazu kommt: Die SPD debattiert zwar gern, viel und öffentlich. Aber letztlich folgt sie meist ihren Chefs. So war das auch etwa bei den Voten über die Vorratsdat­enspeicher­ung (2015) oder das Ceta-Abkommen (2016). Eine Zukunftsga­rantie ist das aber nicht.

Jusos-Chef Kühnert hat schon jetzt gewonnen, zumindest an Bekannthei­t.

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