Das Ende einer Volkspartei
Die SPD muss sich heute entscheiden: Gespräche über eine Große Koalition oder Neuwahl? Die rote Zukunft wirkt düster – so oder so.
Am Stadtrand Bonns hatte sich die deutsche SPD einst tief gewandelt: Hier öffnete sie sich für neue Wählergruppen, versöhnte sich mit der Marktwirtschaft: Das sogenannte „Godesberger Programm“machte aus der sozialistischen Arbeiter- eine Volkspartei.
Heute, knapp 60 Jahre später, kehrt die SPD nach Bonn zurück. Auf einem Sonderparteitag eröffnen sich für die tief verunsicherten und vom Zickzackkurs ihres Parteichefs irritierten SPD-Wähler und Funktionäre zwei Wege. Beide aber sind Sackgassen: Die eine führt zu CDUKanzlerin Angela Merkel, die andere zu Neuwahlen. „Wir haben die Wahl zwischen dem langsamen und dem schnellen Tod als Volkspartei“, meinte ein Berliner SPD-Mitglied im Dezember. Das Ja-Lager. Die Große Koalition (GroKo) wäre demnach der „langsame Tod“. Martin Schulz wirbt dafür. Der SPD-Chef will, dass die rund 600 Delegierten heute für die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen mit CDU/CSU stimmen. Die Ironie: Schulz redet dabei gegen Argumente an, die er und seine Mitstreiter selbst vor der großen Kehrtwende vorgetragen haben: Zum Beispiel, dass die GroKo abgewählt wurde, dass sie die Ränder stärkt, dass sie der SPD Profil raubt, weil die Unterschiede zur Union dann verschwimmen. Andererseits: Lehnt die Basis GroKo-Verhandlungen ab, ist die gesamte SPD-Spitze düpiert – und Schulz, der entzauberte Hoffnungsträger, nach nur zehn Monaten im Amt auch als Parteichef Geschichte. Kopflos würde die SPD in Neuwahlen stolpern, die ohnehin zur Unzeit kämen: Ein neuer Hoffnungsträger ist weit und breit nicht in Sicht; Um- fragen taxieren die Partei zuweilen auf 18 oder 18,5 Prozent. Ein Desaster.
Schulz weiß um die Neuwahl-Angst der Basis. Er bestärkt sie darin: Bei Neuwahlen würde die SPD als Verursacher „abgestraft“, warnt er im „Spiegel“. Auch das „Ja, aber“-Lager an der SPDSpitze hantiert mit Negativszenarien. Es handelt sich um eine Gruppe, die nur zaghaft für eine Koalition eintritt, und auch nur unter der Bedingung, dass es inhaltlich noch „Nachbesserungen“gibt. Der eher linke SPD-Vize Ralf Stegner zählt zu der Gruppe. Er besteht etwa darauf, dass die sachgrundlose Befristung von Arbeitsverträgen beseitigt wird. Die Union winkt ab. Zudem warnt Stegner twitternd vor Neuwahlen, die in einem „Albtraum“enden könnten, wie er meint: „Mit einer gestärkten Rechten plus (Kurz)-Programm nach Österreich-Vorbild“nämlich. Das Nein-Lager. Kevin Kühnert ist ein „Milchgesicht“. So sieht das die „Bild“Zeitung. Bloß macht das „Milchgesicht“die SPD-Spitze nervös. Ziemlich nervös. Mit Leidenschaft und einer Aufmüpfigkeit, wie sie das Amt des Jusos-Chefs gebietet, redet der 28-Jährige gegen die GroKo an. Die Jungen hätten ein Interesse daran, „dass noch etwas übrig bleibt von diesem Laden, verdammt noch mal!“, sagte der Chef der Jungsozialisten einmal. Soll heißen: Die SPD dürfe sich nur nicht wieder in Merkels Umarmung begeben, in der sie zweimal auf historische Tiefstände schrumpfte.
Inhaltlich hadern viele GroKo-Gegner mit der paktierten Flüchtlingslinie, die klar die Handschrift der bayrischen CSU trägt. Ihnen fehlen auch Leuchtturmprojekte. Ex-SPD-Chef Sigmar Gabriel hatte 2013 immerhin den Mindestlohn als Trophäe. Diesmal scheiterte die SPD etwa mit der Einführung einer Bürgerversicherung oder eines höheren Spitzensteuersatzes, beides Prestigeprojekte der SPD. Aber derlei inhaltliche Debatten sind bisweilen vorgeschoben: Kühnert etwa lehnt die GroKo prinzipiell ab. Die SPD könne sich nur in Opposition „erneuern“, so das Credo des Politikwissenschaftsstudenten. Gewerkschaft für GroKo. Im Fernduell landete Schulz in der Vorwoche jedoch einen Wirkungstreffer gegen den JusosChef, als er den Deutschen Gewerkschaftsbund auf seine Seite zog. DGBChef Reiner Hoffmann lobte das Sondierungspapier, darunter die Vereinbarung, dass Arbeitgeber wieder mehr, nämlich die Hälfte der Beiträge zur Krankenkasse, schultern sollen. Auch die geplante Stabilisierung des Rentenniveaus gefällt dem Gewerkschafter. Daumen hoch für die GroKo also.
Und wie tickt die Basis? Es könnte knapp werden. Ein SPD-Kenner tippt auf ein Ergebnis „von 60 zu 40 Prozent“ Der glücklose SPD-Schulz bittet heute den Parteitag in Bonn um ein Ja zu Gesprächen mit der Union zwecks Koalitionsbildung. für GroKo-Verhandlungen. Zwar machten neben den Jusos auch kleinere Landesverbände wie Berlin und SachsenAnhalt dagegen mobil, Gewicht hat aber, wie die Großen abstimmen, etwa die Gastgeber aus der roten Herzkammer, die 144 Delegierten NordrheinWestfalens, wo der weitaus größte SPDLandesverband besteht. Sie sind in der GroKo-Frage tief gespalten, könnten aber doch wie ihr Landeschef, Michael Groschek, mehrheitlich zu Verhandlungen mit der Union tendieren. Sie fordern aber „substanzielle Verbesserungen“hinsichtlich des Ergebnisses der bisherigen Sondierungen. Recht sicher ist eine Mehrheit pro Groko im zweitgrößten Landesverband Niedersachsen.
Dazu kommt: Die SPD debattiert zwar gern, viel und öffentlich. Aber letztlich folgt sie meist ihren Chefs. So war das auch etwa bei den Voten über die Vorratsdatenspeicherung (2015) oder das Ceta-Abkommen (2016). Eine Zukunftsgarantie ist das aber nicht.
Jusos-Chef Kühnert hat schon jetzt gewonnen, zumindest an Bekanntheit.