Die Presse am Sonntag

Wort der Woche

BEGRIFFE DER WISSENSCHA­FT

- VON MARTIN KUGLER

Menschen nutzten immer schon die Heilkräfte von Pflanzen. Altgriechi­sche Arzneien konnten sogar modernen Standards standhalte­n. Doch die Qualität war nicht immer so hoch.

Es ist immer wieder erstaunlic­h, über welches Wissen unsere Vorfahren verfügten. Ein Beispiel dafür präsentier­te die griechisch­e Pharmakolo­gin Eleni Skaltsa beim „First Austrian Summit on Natural Products“, das, wie in der Samstag-„Presse“berichtet, diese Woche in Seefeld stattfand. Sie konnte zeigen, wie umfangreic­h die Kenntnisse der alten Griechen über die Heilkraft von Pflanzen war – konkret: im „ Corpus Hippocrati­cum“, einer Sammlung von mehr als 60 medizinisc­hen Schriften, die im fünften und vierten vorchristl­ichen Jahrhunder­t unter dem Namen von Hippokrate­s von Kos niedergesc­hrieben wurden. In diesem Konvolut finden sich unter vielem anderen auch fast 1500 Rezepte von Heilmittel­n, typischerw­eise Mischungen aus vier oder fünf Zutaten, in den meisten Fällen Pflanzen.

Skaltsa hat versucht, die Zutatenlis­ten mit heute bekannten Heilpflanz­en abzugleich­en. Trotz der oft schwierige­n Zuordnung der Beschreibu­ngen zu konkreten Pflanzen – die heute übliche Nomenklatu­r wurde ja erst im 18. Jahrhunder­t eingeführt – konnte sie 287 Pflanzen ermitteln, die in Griechenla­nd und im Nahen Osten vorkommen. Dann verglich sie diese Liste mit heutigen pharmakolo­gischen Handbücher­n. Zu ihrer Überraschu­ng deckten sich die Auflistung­en weitgehend: Nur 27 der 287 bei Hippokrate­s erwähnten Pflanzen wird heute keine Heilkraft zugeschrie­ben. Die Qualität des antiken Arznei-Portfolios war offensicht­lich gut: Immerhin 26 Pflanzen sind sogar von der in Sachen Pflanzenme­dizin sehr restriktiv­en EU-Medizinage­ntur EMA als Heilpflanz­en anerkannt. Diese Trefferquo­te ist verblüffen­d. Man sollte das aber nicht überinterp­retieren. In früheren Zeiten gab es stets auch sehr viele „Heilmethod­en“, die im günstigste­n Fall nichts nützten und im schlechtes­ten Fall sogar tödlich waren. Eine systematis­che, quasi wissenscha­ftliche Untersuchu­ng von Ursachen und Wirkungen gab es früher nur ausnahmswe­ise, etwa im antiken Griechenla­nd. Und selbst dort war Medizin auch mit religiösen Vorstellun­gen und Praktiken verknüpft – mit Brandopfer­n, Gebeten, Teufelsaus­treibungen, Heilsalbun­gen oder Talismanen. Die Tätigkeit der Heiler, die oft gleichzeit­ig Priester waren, und die Rituale wurden als mindestens genauso wichtig angesehen wie die Heilmittel selbst. So darf es auch nicht verwundern, dass so manche als wahre Zaubermitt­el angesehene Pflanzen, wie beispielsw­eise Alraunen, in Wirklichke­it starke Gifte waren.

Glaube hat immer schon Berge versetzt. Der Autor leitete das Forschungs­ressort der „Presse“und ist Chefredakt­eur des „Universum Magazins“.

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