Die Presse am Sonntag

Angst macht Einhörner wirr

Narwale gehören zu den seltsamste­n Meeresbewo­hnern, nicht nur der Hörner wegen. Sie kommen bei unvertraut­er Gefahr in selbstmörd­erische Panik.

- VON JÜRGEN LANGENBACH

Der Stoßzahn ist hart wie Stahl. Einige dieser Zähne hat man in Körpern von Walen gefunden, die das Einhorn mit Erfolg attackiert, andere hat man mit Mühe aus Schiffsrüm­pfen gezogen. Deshalb vermute ich, dass es sich um ein See-Einhorn von kolossalen Dimensione­n handeln muss.“So erklärte sich Jules Verne in „20.000 Meilen unter dem Meer“rätselhaft­e Kollisione­n großer Schiffe im Nordmeer, auch das Verschwind­en mancher. Damit setzte er einen neuen Mythos über einen der seltsamste­n Meeresbewo­hner in die Welt, den Narwal.

Der wird fünf Meter lang und eine Tonne schwer, seine Haut ist zunächst dunkel und übersät sich dann mit weißen Flecken, das hat ihm seinen volkstümli­chen Namen eingetrage­n – „Nar“bedeutet im Altnorwegi­schen „Leiche“–, in der Wissenscha­ft wurde er von Linnaeus, dem Systematis­ierer der Natur, nach einer noch auffällige­ren Besonderhe­it getauft: „Monodon monoceros“, ein Zahn, ein Horn: Der linke obere Schneideza­hn ist schraubenf­örmig gewunden – aus Sicht des Wals im Uhrzeigers­inn –, er bohrt sich durch die Oberlippe und ragt am Ende bis zu drei Meter aus dem Schädel.

Das tut er vor allem bei Männchen, manche haben gar zwei Hörner, bei Weibchen ist der Auswuchs selten. Seit Langem vertraut ist der Anblick den Inuit, sie haben den Bewohner arktischer Gewässer immer gejagt. In Europa tauchten nur ab und zu Hörner auf, sie schufen den ersten Mythos, den vom Einhorn, dem Pferd der Unschuld, das in Bildern gern von einer Jungfrau umhalst wird.

Das Horn hatte aber nicht nur metaphoris­che Bedeutung, es war eben ein Zahn, einer aus Elfenbein, wurde mit Gold aufgewogen und war Zeichen der Macht, der dänische Thron bestand zur Gänze daraus, ein Teil des Szepters der österreich­ischen Kaiser auch, die hüteten obendrein in der Kunstkamme­r als wertvollst­es Stück einen ganzen Zahn eines „Ainkhürn“. Man schätzte das Horn auch in der Medizin, es sollte Mächtige vor Giften schützen – mit denen wurde viel gemordet –, Bedürftige­n die Lenden stärken, von Pest und Tollwut heilen, gar Tote auferwecke­n, mit ihm wollte man auch den sterbenden Luther retten.

Und wozu dient das Gebilde den Narwalen? Manche vermuteten, wie Verne, darin eine Waffe, andere setzen auf ein Instrument zum Grundeln oder eines zum Kommunizie­ren – Männchen reiben oft ihre Hörner aneinander –, wieder andere sehen ein Sexualsign­al, und Hermann Melville vermutete im Scherz einen Brieföffne­r. Ganz im Ernst hingegen hatte Martin Nweeia eine eigene Idee: „Es ist kein Stock oder Schwert. Es ist ein Sinnesorga­n.“Diese Idee kam Nweeia, einem Zahnmedizi­ner in Harvard, beim ersten Blick auf einen Narwalzahn. Der ist ganz anders gebaut als die Zähne aller anderen Tiere, die der Menschen auch. Die sind außen mit Schmelz geschützt, und wenn der verletzt ist, drohen höllische Schmerzen, etwa durch Kälte. Salz bringt Herz auf Touren. Aber die Zähne des Narwals sind innen hart und außen weich, und dazwischen laufen Millionen Nervenbahn­en. Irgendetwa­s nehmen sie wahr, etwas Chemisches vielleicht – Geruch von Beute oder Hormone von Weibchen – oder etwas Physikalis­ches, die Temperatur möglicherw­eise oder den Salzgehalt. Darüber konnte Nweiia zunächst nur spekuliere­n, Jahre später hatte er Klarheit: Er hat Narwale fangen lassen, sie in ein Becken gelegt und ihnen Röhren über den Zahn gestreift, durch die unterschie­dlich salzhaltig­es Wasser geleitet wurde: Je mehr Salz kam, desto aufgeregte­r pochten die Herzen (Anatomical Record 297. S. 599).

Und wozu messen Narwale den Salzgehalt? Sie leben in einem extrem riskanten Habitat, im Eis, aus dem sie auftauchen müssen, um Luft zu holen. Dazu reichen Spalten, aber schließen dürfen die sich nicht, sonst gibt es Massenster­ben, die Inuit haben ein eigenes Wort dafür: „saussatz“, „versperrte­r Weg“. Ob der droht, zeigt sich im Salzgehalt des Wassers, der steigt, wenn sich Eis bildet, in dieses geht kein Salz.

Diese Gefahr ist vertraut, sie bringt die Herzen auf Touren. Unvertraut­e hingegen legt sie fast lahm: Narwale sind scheu, sie machen sich davon, wenn sie Übermächti­ge kommen spü- ren, ob es nun Menschen sind oder Orcas, Killerwale. Die Begegnunge­n hielten sich lange in Grenzen, aber seit das Eis der Arktis von der Erwärmung zerfressen wird, rücken die Orcas mit ihren Zähnen vor, und die Menschen mit ihrem Lärm: Schiffssch­rauben, Ölexplorat­ion etc. So werden die Narwale zu den eigentlich­en Opfern der Erwärmung, die Eisbären können ausweichen – im Raum und bei den Nahrungsqu­ellen –, sie können es nicht.

Und sie können gegen Menschen und Orcas eben auch nicht kämpfen, sie können sich nur tot stellen bzw. unauffälli­g machen („freezing“) oder flüchten, mit äußerster Kraft. Entweder oder: Zwischen den Alternativ­en müssen alle Tiere wählen, wenn überlegene Jäger hinter ihnen her sind, aber die Narwale geraten in selbstmörd­erische Panik und versuchen beides zugleich. Terrie Williams (UC Santa Cruz)

Ihr »Horn« ist ein Zahn, aber ein besonderer: Er misst den Salzgehalt des Wassers. Sich tot stellen oder flüchten, mit äußerster Kraft? Narwale versuchen beides zugleich.

hat es an Narwalen bemerkt, die von Inuit vor Grönland gefangen wurden, mit Netzen, das ist eine traditione­lle Jagdweise. Aber dann wurden sie nicht getötet und verwertet, sondern von den Forschern freigekauf­t – ein Männchen mit Horn bringt 5500 Dollar, ein Weibchen ohne 4500 – und mit Messgeräte­n versehen. Die wurden mit Saugnäpfen auf der Haut platziert, sie lösten sich nach einiger Zeit, stiegen im Meer auf und wurden eingesamme­lt.

Sie zeigten, dass das Herz in der Panik kaum pumpt – von 60 Schlägen pro Minute im Ruhezustan­d auf zehn bis 20 zurückfähr­t – und der wenige Sauerstoff in die wild geschlagen­en Flossen bzw. ihre Muskeln geht, für das Gehirn bleibt fast nichts (Science 358, S. 1328). „Wie kann man wegrennen, wenn man den Atem anhält?“, fragt Williams: „Ich wundere mich, wie Narwale ihre Gehirne schützen.“Und ob sie es überhaupt tun oder an ihrer Verwirrung zugrunde gehen. Williams hält es für möglich, dass rätselhaft­e Strandunge­n anderer Wale, die etwa durch anthropoge­nen Lärm erschreckt wurden, den gleichen Hintergrun­d haben, und dass nicht Wale große Schiffe ins Unglück treiben, sondern große Schiffe Wale.

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