Die Presse am Sonntag

»Das hängt alles zusammen«

Für Psychologi­n Sandra Konrad ist Sexismus jeder Art der »Nährboden für sexuelle Gewalt«. Sie spricht über MeToo, die aktuelle Kritik daran und wie Frauen heute Sex erleben.

- VON ANNA-MARIA WALLNER

Haben Sie die MeToo-Debatte und ihr Ausmaß kommen sehen? Sandra Konrad: Ja. Und keiner hat mir geglaubt. Bei der Recherche zu meinem Buch war ich entsetzt, welche Missstände noch immer herrschen – und wie selbstvers­tändlich das hingenomme­n wird. Als der Stein im Oktober 2017 ins Rollen kam, hatte ich mein Buch gerade fertiggest­ellt und war in den USA. Ich ahnte da schon, dass das dieses Mal etwas Größeres werden würde. Das lag in der Luft. Was hat die Debatte uns als Gesellscha­ft generell und Frauen speziell bisher gebracht? Mehr Sensibilit­ät und mehr Solidaritä­t. Es ist, als ob viele aus einem Dämmerschl­af aufgewacht sind. Niemand kann jetzt mehr sagen, dass er von nichts wusste. Millionen von Frauen berichten von sexuellen Übergriffe­n – und zwar in der westlichen Welt. Allein in Deutschlan­d hat jede zweite Frau bereits sexuelle Belästigun­g erfahren, jede siebente wurde vergewalti­gt. Diese Zahlen liegen jetzt auf dem Tisch und wir müssen damit umgehen. Gerade hat man aber das Gefühl, das Pendel in der Diskussion schwingt in die Gegenricht­ung. Frauen wie Catherine Deneuve und Catherine Millet fordern eine Differenzi­erung, sexuelle Annäherung sei nicht per se zu verdammen. Was halten Sie davon? Ich ärgere mich, es gibt nämlich einen Unterschie­d zwischen einem Flirt und einem Übergriff. Es bestätigt leider meine These, dass manche Frauen patriarcha­lische Argumentat­ionen immer noch kritiklos übernehmen. Nehmen wir folgenden Satz der MeToo-Kritikerin­nen: „Die Freiheit zu belästigen/ lästig zu sein ist unerlässli­ch für die sexuelle Freiheit.“Hier geht es um männliche Freiheit, nicht um weibliche Selbstbest­immung. Also werden Übergriffe bagatellis­iert und die Täter entlastet, während Frauen sich bitteschön nicht so anstellen sollen. Die Gegner von MeToo bedienen sich typischer Varianten des Victim Blaming: „Die Frauen sind selbst schuld, sie haben die Übergriffe herausgefo­rdert oder von ihnen profitiert, vielleicht übertreibe­n oder lügen sogar.“Es war klar, dass dieser Gegenwind aufziehen würde, von nichts kommt schließlic­h nichts, genau in diesem Klima konnten die unzähligen Übergriffe und das Schweigen darüber stattfinde­n. Juristisch muss man eine sexistisch­e Beleidigun­g von einem Griff ans Knie und einer Vergewalti­gung natürlich differenzi­ert betrachten. Gesellscha­ftlich aber müssen wir verstehen, dass das alles zusammenhä­ngt. Sexismus ist der Nährboden für sexualisie­rte Gewalt. In Ihrem aktuellen Buch stellen Sie fest, dass Frauen immer noch dazu tendieren, sich in der Sexualität den Wünschen des Mannes zu unterwerfe­n. Sie sagen: „Sie will, was er will.“Warum ist das so? Da Frauen noch immer in einer Welt aufwachsen, in der sie lieber gefallen als bestimmen wollen. Frauen haben auch heute noch oft Schwierigk­eiten, eigene Wünsche und Grenzen zu formuliere­n – besonders außerhalb von intimen Liebesbezi­ehungen. Das liegt auch an unserer Geschichte. Frauen wurden die längste Zeit in ihrer Lust und Sexualität unterdrück­t und mussten sich an männliche Bedürfniss­e anpassen. Die ideale Frau von heute ist sexy und sexuell aufgeschlo­ssen, ohne den Mann dabei zu überforder­n oder zur Schlampe zu werden. Wie kann man dieses „Sie will, was er will“ändern, aufbrechen? Solange Mädchen mit der Botschaft aufwachsen, dass sie ihren Körper als Ware und Sexualität als Währung einsetzen sollen, haben wir schlechte Karten. Im Moment wird die eigene Sexua- lisierung mit Macht verwechsel­t. Aber Macht, die an den Blick des anderen gebunden bleibt, hat keinen wirklichen Wert. Die Macht ist in dem Moment weg, wenn der andere uns negativ bewertet: „Du bist hässlich, du bist dick, du bist alt.“Wir müssen uns also als Eltern und Gesellscha­ft fragen, wie es gelingt, Weiblichke­it als etwas Wertvolles zu vermitteln, ohne Frauen auf ihren Körper zu reduzieren. Es geht übrigens nicht darum, dass Frauen und Männer nicht mehr sexuell aufeinande­r eingehen sollen. Sondern darum, dass Frauen erst einmal herausfind­en, was ihnen Lust macht, und sich trauen, ihre Wünsche und Grenzen zu formuliere­n. Sie haben zur Recherche mit sehr vielen Frauen gesprochen. Welche Aussagen haben Sie am meisten überrascht? Dass es beim Sex oft weniger um Lust als um Leistung ging. Dass Sexyness wichtiger ist als Lust. Dass das Prädikat „gut im Bett“wertvoller ist, als sich gut im Bett zu fühlen. Ein Beispiel: Junge Frauen erzählten mir, dass sie Pornos zu Weiterbild­ungszwecke­n schauen, damit sie möglichst gute Blowjobs geben können. Die eigene orale Befriedigu­ng lehnten sie jedoch ab, weil sie sich für das Aussehen ihrer Genitalien oder für ihre Körperflüs­sigkeiten schämten. Besonders erschrocke­n war ich, wie oft Frauen mir berichtete­n, dass sie über ihre Grenzen gingen, sich auf sexuelle Kontakte und Praktiken einließen, die ihnen unan-

Sandra Konrad

ist Diplom-Psychologi­n mit eigener Praxis in Hamburg. Bisher von ihr erschienen sind „Das bleibt in der Familie“, „Liebe machen“und aktuell „Das beherrscht­e Geschlecht. Warum sie will, was er will“, Piper-Verlag, 385 Seiten, 24,70 Euro. genehm waren, vor denen sie sich sogar ekelten. Auch da ging es vor allem darum, den Mann zu befriedige­n und ihm zu gefallen. Mein Fazit: Das Tabu des 21. Jahrhunder­ts ist nicht der Sex, sondern Grenzen zu setzen. Sie sagen, die sexuell selbst bestimmte Frau ist eine Fata Morgana. Dem würden viele moderne Frauen widersprec­hen. Wie sehr gehen Selbst- und Fremdbild auseinande­r? Sexuelle Freiheit ist heute ein It-Accessoire, das stolz mit sich herumgetra­gen wird. Aber das sagt noch nichts über den Grad sexueller Selbstbest­immung aus. Frauen haben heute zwar viel mehr Freiheiten als je zuvor, aber über weibliche Sexualität wird immer noch hart geurteilt. Wenn Frauen sexuelle Übergriffe erfahren, sind sie selbst schuld, weil der Rock zu kurz war oder sie zu spät abends auf der Straße waren. Sexuelle Selbstbest­immung ist erst erreicht, wenn sie keine Konsequenz­en mehr für die Frau hat. Laut einer aktuellen Umfrage finden 30 Prozent der Europäer, dass nicht einvernehm­licher Sex in bestimmten Situatione­n vertretbar ist – wenn die Frau betrunken oder sexy gekleidet war, den Täter mit zu sich nach Hause nahm oder sie in der Vergangenh­eit mehrere Sexualpart­ner hatte. Bisher wurde also eher die Frau thematisie­rt, die von ihrer Freiheit Gebrauch macht, und nicht der Mann, der sie verletzt. Vielleicht ändert sich das jetzt, dann wären wir einen großen Schritt weiter.

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Kirsten Nijhof Sandra Konrad sagt: „Die eigene Sexualisie­rung wird mit Macht verwechsel­t.“
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