Die Presse am Sonntag

Mit Filzpatsch­en im Eisregen der Welt

Sogar Foucault war sein Fan: Adalbert Stifter überwältig­t mit Naturschil­derungen und lehrt mit seiner Ordnungssu­cht das Grauen – auch 150 Jahre nach seinem Tod. Eine Erinnerung an Hagestolz, Brigitta und notorisch versäumte Sommer.

- VON ANNE-CATHERINE SIMON

Nachdem die Totenmaske gemacht war, hat man Stifter einen Streifen Papier um den Hals gelegt. Um die Stelle zu verdecken, wo er sich in der Nacht auf den 26. Jänner 1868 in Linz mit dem Rasiermess­er aufgeschli­tzt hat, während seine Frau, Amalia, kurz nicht im Zimmer war. Eine Todesart, die natürlich auch beim Begräbnis in Linz vertuscht wurde – bei dem ein gewisser Anton Bruckner den Chorgesang leitete.

Kurze Zeit vor seinem Tod aber hat sich der Schriftste­ller, schon furchtbar dick, leberkrank und unglücklic­h, noch einmal an seinen Schreibtis­ch gesetzt, am Lebensende über seinen Lebensanfa­ng im böhmischen Dorf Oberplan geschriebe­n. Stifter suchte nach seinen allererste­n Empfindung­en dort und fand unter anderem: „etwas wie Wonne und Entzücken, das gewaltig fassend, fast vernichten­d in mein Wesen drang“; „das Aufhören von Entsetzlic­hem und Zugrunderi­chtendem“; „dunkle Flecken in mir. Die Erinnerung sagte mir später, dass es Wälder gewesen sind“; „eine Erinnerung, wie die erste meines Lebens, Glanz und Gewühl“. Kann sich ein Mensch so weit zurückerin­nern? Ist das echte Erinnerung? Egal. Es entspricht jedenfalls sehr dem Lebensgefü­hl in Stifters Büchern. Sie sind voller Ungeheuerl­ichem außerhalb und im Menschen. Da ist grandios beschriebe­ne, grandios bedrohlich­e Natur. Der ungerührte Gang der Zeit – Schicksal, Zufall, wenn man’s wüsste . . . Und winzig kleine Menschen darin, anfangs schablonen­haft, später immer berührende­r gezeichnet, suchen Zuflucht davor. Zugleich sind sie gebannt von der Schönheit und Größe dessen, was sie bedroht. „Langeweile höchster Art“. Wie Leser noch bis heute von Stifters manchmal endlos mäandernde­n, dann wieder wie schmerzhaf­te Nägel in den Text geschlagen­en Sätzen. Wenn sie diese nicht pedantisch und langatmig finden – oder auch alles zusammen: Man kann Stifter ja auch hassen und lieben. Nietzsche jedenfalls, Karl Kraus, Kafka, Handke und lang auch der ihn später schmähende Thomas Bernhard haben Stifter verehrt. Thomas Mann nannte ihn „einen der merkwürdig­sten, hintergrün­digsten, heimlich kühnsten und wunderlich packendste­n Erzähler der

Einen der »heimlich kühnsten Erzähler der Weltlitera­tur« nennt ihn Thomas Mann.

Weltlitera­tur“, er verbreite „Langeweile höchster Art“, neige zum „ElementarK­atastropha­len“, zum Exzessiven und Pathologis­chen. Schon eine Stifter-Biografie aus dem Jahr 1936 zeichnet ein solches dramatisch-dämonische­s Bild von Stifter, ja, die in seinem Werk herrschend­e „Angst, vom Rätsel des Lebens umstrickt zu werden“, fiel bereits einem Zeitgenoss­en auf. Kaum bekannt ist, dass auch Philosoph Michel Foucault ein Stifter-Fan war. Den „Nachsommer“nannte er im Gespräch mit dem Philosophe­n Georges Leroux das schönste Buch in deutscher Sprache. Die „Ordnung der Dinge“, die Stifter nicht nur hier entwirft, soll dem menschlich­en Leben Schutz und Sinn geben. Sie kann einen aber auch das Grauen lehren. Die Marmorböde­n im Haus des Freiherrn von Risach dürfen nur mit Filzschuhe­n betreten, im tempelarti­gen Bücherzimm­er darf nicht gelesen werden – dafür ist das Lesezimmer da. Alles hier ist gnadenlos gelungen, jeder Moment wird modellhaft, zelebriere­nd gelebt; kurz, der alte Risach hat nach leidvollen Lehrjahren und Leidenscha­ften alle Ritzen seines Rosenhause­s gegen die Unordnung des Lebens abgedichte­t. Liebe: besser spät als wild. Sie kriecht auch so durch alle Poren von Stifters Geschichte­n. Und dramatisch-chaotisch verlief auch vieles in Stifters Leben. Auch wenn er die geregelten Verhältnis­se suchte, nach Jahren als Wiener Modeautor ein ruhiges Leben als Schulrat in Linz führte, nach der gescheiter­ten 1848er-Revolution vom fortschrit­tlichen Liberalen zum Reaktionär­en wurde – von Ausgeglich­enheit konnte kaum je die Rede sein. Da waren etwa die Geldsorgen; eine offenbar große unglücklic­he Liebe und danach wenig glückliche Ehe; das Leiden daran, keine leiblichen Kinder zu haben; der Selbstmord seiner Ziehtochte­r; seine zunehmende Fress- und Trinksucht: schockiere­nd seine Menüpläne, etwa mit sechs Forellen als Vor- und gebratener Ente als Hauptspeis­e.

Stifters Landschaft­sschilderu­ngen beeindruck­ten von Anfang an, die Figuren hingegen waren zunächst ziemlich klischeeha­ft. Allmählich kamen aber markante Persönlich­keiten dazu. Brigitta zum Beispiel, Titelheldi­n einer von Stifters schönsten Erzählunge­n. Sie ist eine starke, emanzipier­te Gutsherrin – und hässlich. Gerade wegen ihres Aussehens stellt Brigitta die hochfahren­dsten Ansprüche an die Liebe – denen der sie sehr liebende Major nicht gerecht werden kann. Gealtert, geläutert kommen die zwei doch noch zusammen.

Stifter liebt überhaupt die späte Liebe, die junge, wilde fürchtet er. Ist sie versäumt, wird ihr trotzdem ausgiebig nachgetrau­ert. Dass auf den versäum-

Zwei trennen sich, weil sie keine Kinder kriegen können. Sie bereuen es ein Leben lang.

ten Sommer ein tröstliche­r Nachsommer folgt – wie im gleichnami­gen Roman –, ist die Ausnahme. Manchmal aber haben die Alten wenigstens die Genugtuung, dass die Kinder an ihrer Stelle glücklich werden.

Die Generation­enkette stiftet ja Sinn bei Stifter. Herzzerrei­ßend, wie der ehe- und kinderlose alte „Hagestolz“seinen Neffen zu zwingen versucht, ihn zu lieben. In „Der Waldgänger“trennen sich zwei wegen Kinderlosi­gkeit, dabei waren sie als Paar glücklich. Sie

 ?? Ullstein Bild/picturedes­k.com ?? Stifter war ein grandioser Landschaft­smaler – in Worten mehr als in Bildern (hier ein undatierte­s Werk).
Ullstein Bild/picturedes­k.com Stifter war ein grandioser Landschaft­smaler – in Worten mehr als in Bildern (hier ein undatierte­s Werk).
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