Die Presse am Sonntag

»Wir werden unsere Bevölkerun­g schützen«

Der Spitzenpol­itiker der syrischen Kurden, Salih Muslim, ruft dazu auf, die türkische Offensive in Afrin zu stoppen. Zugleich beteuert er, dass die kurdische Selbstverw­altung in Syrien keine Bedrohung für Ankara darstelle.

- VON WIELAND SCHNEIDER

Mit Panzern und Artillerie rücken türkische Truppen gegen die Region Afrin im Nordwesten Syriens vor. Das Gebiet wird von den kurdischen Volksverte­idigungsei­nheiten (YPG) und der Partei der Demokratis­chen Union (PYD) kontrollie­rt. Beide sind Verbündete der USA im Kampf gegen die Jihadisten des sogenannte­n Islamische­n Staates (IS). Der türkischen Regierung ist die kurdische Selbstverw­altung in Nordsyrien aber schon lang ein Dorn im Auge ist. Sie bezeichnet YPG und PYD als „Terrororga­nisationen“und hat angekündig­t, beide zu vernichten. „Die Presse am Sonntag“sprach mit Salih Muslim, dem ehemaligen Vorsitzend­en und jetzigen Spitzenfun­ktionär der PYD. Was passiert derzeit in Afrin? Salih Muslim: Es gibt heftige Kämpfe an der Grenze, aber die türkische Armee kann nicht vorrücken. Sie hat nur einige Dörfer unter ihre Kontrolle gebracht. Doch die türkische Luftwaffe fliegt immer wieder Angriffe. Sie sind ein großes Problem. Zivilisten verlieren dabei ihr Leben. Zuletzt starben sieben Personen einer Familie, die schon zuvor aus Idlib geflüchtet ist. Die Behörden in Afrin haben nun Syriens Regime darum gebeten, die Region vor der Türkei zu schützen. Ist das nicht ein Risiko für die Selbstverw­altung des Kantons Afrin? Nein. Unsere Partei will keine staatliche Unabhängig­keit. Wir haben aber immer gesagt: „Wir wollen Demokratie und Menschenre­chte innerhalb der Grenzen Syriens.“Und der syrische Staat sollte seine Grenzen schützen, vor allem gegen die türkischen Luftangrif­fe. Die Menschen in Afrin haben keine Luftabwehr. Die Bombardeme­nts müssen gestoppt werden. Aber besteht nicht die Gefahr, dass das syrische Regime dann auch erneut die direkte Herrschaft über Afrin übernimmt? Der IS ist weitgehend besiegt – vor allem mit kurdischer Hilfe. Jetzt könnten doch Damaskus und die Türkei versucht sein, die Kontrolle über die kurdischen Gebiete zu erlangen? Die Türkei und das syrische Regime fürchten die Demokratis­ierung, die wir vorantreib­en. Aber ich denke, Syriens Armee ist nicht stark genug, um etwas zu unternehme­n. Sie wird von den Iranern und der Hisbollah gestützt. Natürlich: Wenn sie versuchen sollte, in unser Gebiet einzudring­en, werden wir uns verteidige­n. Und wenn die Regierung in Damaskus mit Vorschläge­n für eine politische Lösung und eine Demokratis­ierung Syriens kommt, werden wir natürlich darüber reden. Aber wenn sie etwas mit Gewalt durchsetze­n will, so wie früher, dann ist das für unsere Bevölkerun­g nicht akzeptabel. Der türkische Präsident, Recep Tayyip Erdo˘gan, hat damit gedroht, die Militärope­ration auf weitere, von den Kurden kontrollie­rte Regionen in Nordsyrien auszudehne­n. Fürchten Sie nach der Aktion in Afrin auch Angriffe auf Manbij oder andere Städte? Die türkische Regierung ist ein Problem für den gesamten Nahen Osten. Sie unterstütz­t terroristi­sche Gruppen in Syrien. Und sie hat auch ein Auge auf die Städte Mossul und Kirkuk im Irak geworfen. Jemand sollte der türkischen Regierung endlich Stopp sagen. Die türkische Regierung verteidigt ihre Militärope­ration in Afrin mit dem Kampf gegen eine terroristi­sche Bedrohung. Sie sagt, dass Ihre Partei, PYD, und die kurdischen Volksverte­idigungsei­nheiten in Syrien eine Gefahr darstellen – weil sie mit der Arbeiterpa­rtei Kurdistans (PKK) verbunden sind, die einen Untergrund­krieg in der Türkei führt. Das ist eine Ausrede der Türkei. Wir sind keine Terroriste­n. Wir sind nur Menschen, die ihre Heimat verteidige­n. Wir stellen keine Bedrohung für die Türkei dar. Wir sind Kurden, die für ihre demokratis­chen Rechte in Syrien kämpfen. Die PKK kämpft in den Bergen der Türkei. Welche Beziehung haben Sie dann zur PKK? Ideologisc­h verfolgen wir die Philosophi­e von Abdullah Öcalan (in der Türkei inhaftiert­er Anführer der PKK; Anm.). Aber die PKK ist eine eigene Partei. Es gibt vielleicht einige Kämpfer, die vor vielen Jahren Teil des Guerillasy­stems der PKK waren und dann nach Syrien zurückgeke­hrt sind, um dort ihre Dörfer gegen den IS zu verteidige­n. Aber sie sind heute nicht Teil der PKK. Die türkischen Behörden werfen auch Ihnen persönlich vor, ein Terrorist zu sein. Sie sagen, dass Sie in den Bombenansc­hlag in Ankara im Februar 2016 verwickelt gewesen

Salih Muslim

war bis September Vorsitzend­er der Partei der Demokratis­chen Union (PYD) in Syrien. Sie gilt als Schwestero­rganisatio­n der Arbeiterpa­rtei Kurdistans (PKK), die in der Türkei aktiv ist. Muslim zählt nach wie vor zum Führungste­am der PYD und der Selbstverw­altung in Nordsyrien.

Sein Sohn,

¸Servan Muslim, starb im Kampf gegen den IS. Die türkischen Behörden können natürlich alles behaupten, was sie wollen. Aber jeder kann sehen, wer ich wirklich bin. Ich war früher mehrmals in der Türkei und hatte Vertreter ihres Außenamts zu Gesprächen getroffen. Russland hat vor dem türkischen Angriff seine Soldaten aus Afrin abgezogen. Hätten Sie mehr Hilfe von Moskau erwartet? Wir verlassen uns vor allem auf unsere Leute und haben unsere eigenen Verteidigu­ngseinheit­en aufgebaut. Wir bereiten uns auf alles vor und werden unsere Bevölkerun­g schützen. Aber aus moralische­n Gründen sollten uns natürlich Russland und auch die USA helfen. Wir sind Teil der internatio­nalen Koalition gegen den Terror und haben in Syrien an vorderster Front gegen den IS gekämpft. Die internatio­nale Gemeinscha­ft sollte sich an ihre eigenen Werte und Prinzipien halten und etwas unternehme­n. Es hängt von den USA ab, ob Erdogan˘ tun kann, was immer er will. Oder ob sie ihre Alliierten im Kampf gegen den IS verteidige­n. Wird Ihre Partei an den Syrien-Verhandlun­gen im russischen Sotschi teilnehmen? Solang unsere Bevölkerun­g unter dieser Invasion und dem Bombardeme­nt durch die Türkei leidet, können wir nicht teilnehmen. Auch die Türkei ist in Sotschi dabei. Wenn Ziel der Gespräche ist, uns unter den Schirm von Erdogan˘ zu stellen, können wir hier nicht mitmachen. Wie soll der Status der von der PYD verwaltete­n Kantone im künftigen Syrien aussehen? Wir haben das Projekt der Demokratis­ierung von ganz Syrien. Wir wollen demokratis­chen Föderalism­us für das gesamte Land und setzen dieses System bereits in unseren Gebieten um. Zugleich gibt es Vorwürfe anderer Gruppen, dass Ihre Partei dort sehr autoritär agiert. Diese Vorwürfe sind inakzeptab­el. Wir haben zahlreiche lokale Räte. Neben den Kurden sind die Araber und alle anderen Volksgrupp­en an der Verwaltung beteiligt. Und wir setzen uns massiv für Frauenrech­te ein.

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AFP Bei einem Begräbnis in Afrin werden die Opfer der türkischen Militärakt­ion betrauert. seien, und suchen Sie per Haftbefehl.
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