Unsere Faulheit nützt dem Staat
Formulare ausfüllen, Rechnungen sammeln: Das Arbeitsleid bei der Steuererklärung summiert sich zu großen Wohlfahrtseinbußen. Aber die Politik weiß, warum sie daran nichts ändert.
Im Frühling freuen sich die Amerikaner über blühende Blumen und singende Vögel – und sie fluchen über die Steuererklärung, die sie bis 15. April abliefern müssen. Endlich beugen sie sich, meist viel zu spät, über die Formulare und hadern mit ihrem finanziellen Gewissen: Soll ich jetzt wirklich mit wachsender Verzweiflung nach alten Rechnungen suchen und jede einzeln als Abzugsposten eintragen? Oder wähle ich die angebotene Pauschale, auch wenn ich dann mehr Steuer zahle? Viele wählen die Pauschale, oft auch, weil sie in höchster Eile keine andere Wahl mehr haben.
Man könnte wohlfeil höhnen, wie faul und dumm die Leute doch sind, weil sie sich so viele Milliarden durch die Lappen gehen lassen. Ökonomen machen das nicht. Sie halten den Menschen ja für ein rationales Wesen. Wenn ein solches Wesen auf Geld verzichtet, dann verursacht offenbar die von ihm geforderte Aktivität eine Unlust, die monetär bewertet größer ist als der angebotene Betrag. Der Volkswirt Youssef Benzarti, der an der University of California forscht, wollte es genau wissen – und kam zu einem erstaunlichen Ergebnis: Steuern zu erklären ist für uns 4,2 Mal so öde wie das übliche Schuften am Arbeitsplatz.
Damit sind die Wohlfahrtseinbußen, die der Zwang zu dieser Tätigkeit verursacht, weit höher als bisher angenommen. Der US-Fiskus befragte seine Opfer bisher nur nach der Zeit, die sie für die Steuererklärung brauchen, und multiplizierte die Summe mit dem mittleren Stundenlohn. Da hielt sich der Schaden noch in Grenzen. Nun aber weiß man: Die Last des Einkommensteuererklärens ist mit rund 230 Mrd. Dollar zu bewerten, das sind 1,2 Prozent der US-Wirtschaftsleistung. Oder 17 Prozent der eingehobenen Steuer, womit das System rund sechs Mal so ineffizient ist wie die berüchtigt bürokratische Krankenversicherung Medicare.
Übrigens: Dass viele Amerikaner ihre Steuer heute online deklarieren, hat am Zeitaufwand nichts geändert, weil im Gegenzug zur digitalen Revolution nun viel mehr auszufüllen ist. Warum aber provoziert diese Tätigkeit, die weder sonderlich schwierig noch wirklich anstrengend ist, eine solch extreme Aversion? Was wir im Job machen, ist ja oft auch nicht spannender. Aber gerade darum dürfte es gehen: Sobald wir zu Hause sind und unserer Freizeit frönen, irritiert uns alles massiv, was uns an die traurige Arbeit erinnert. Wir wollen endlich Musik hören, mit den Kindern spielen, Gedichte lesen oder Liebe machen – aber sicher nicht Kontoauszüge prüfen, Stromtarife vergleichen oder Garantiebestätigungen abheften. Das schieben wir endlos hinaus. Und man kann nicht einmal sagen, dass wir unsere Trägheit später bereuen: In Summe ist uns das von Bürokram frei gehaltene Privatleben die finanzielle Einbuße wert.
Zudem hat sich ja dankenswerterweise ein Berufsstand entwickelt, der uns bei komplexeren Fiskaldeklarationen die Mühe abnimmt. Es ist aber zu befürchten, dass Steuerberater nach der Lektüre dieses Artikels ihre Honorarforderungen erhöhen. Zur Vorsicht sei deshalb angemerkt: Für allfällige betriebs- oder volkswirtschaftliche Verwerfungen durch die neue Information haftet der Autor nicht. Alles ganz logisch. Wie aber ist Benzarti zu seinem Ergebnis gekommen? Er hat nicht etwa im Labor die Hirnströme im Unlustzentrum von Probanden gemessen, die gerade ihre Steuererklärung ausfüllen. Der gebürtige Marokkaner setzt nicht auf modische Neurowissenschaft, sondern auf knallharte Logik und Mathematik. Also, zum aufmerksam Mitdenken: Wer beim Auflisten von Abzugsposten weniger Steuern spart, als die Werbungskostenpauschale ausmacht, wird natürlich die Pauschale wählen. Wer sich beim Auflisten sehr viel mehr spart, als die Pauschale ihm bietet, tut sich die Mühe meist an. Interessant aber sind jene, die mit der möglichen Ersparnis nur wenig über der Pauschale liegen. Hier ist eine „fehlende Masse“an Steuerzahlern zu erwarten, die einfach drauf pfeifen.
Vergleicht man nun den Anteil der „Pauschalisten“in den einzelnen Einkommensklassen, ergibt sich eine Kurve mit einem Knick. Die fehlende Masse gibt es also wirklich, und man kann ihre Größe abschätzen. Mehr noch: Es lässt sich auch die Last des individuellen Auflistens monetär bewerten – 644 Dollar. Von da an ist es leicht: Die Amerikaner der betreffenden Einkommensklasse verdienen im Schnitt
Mal
so öde empfinden Amerikaner das Steuererklären im Vergleich zu ihrer Arbeit im Job.
Mrd. Dollar
sind in den USA die Wohlfahrtseinbußen durch den Zwang zur Erklärung der Einkommensteuer. Das sind 1,2 Prozent der Wirtschaftsleistung. 92.743 Dollar im Jahr, das ergibt einen Nettostundenlohn von 33 Dollar. Offenbar empfinden sie die Bürde so wie 19 Stunden Arbeit im Job. Tatsächlich brauchen sie fürs Auflisten aber nur viereinhalb Stunden, wie man aus den Befragungen der Steuerbehörde weiß. Der Ödnis-Multiplikator ist also 4,2 – quod erat demonstrandum. Bloß keine Reform. Benzarti tanzt aber nicht nur logische Pirouetten vor, sondern bietet auch Lösungen an. Der Fiskus wehrt sich bisher dagegen, auf Belege zu verzichten, weil er fürchtet, dass die Bürger dann tricksen und Abzüge geltend machen, die ihnen nicht zustehen. Aber der Forscher gibt zu bedenken, dass die erwartbaren Kosten der Steuerhinterziehung wohl geringer wären als die Kosten des Arbeitsleids nach seiner neuen Berechnung.
Doch es gäbe noch viel schlauere Methoden, das System zu vereinfachen. Etwa indem man Dritte die Abzugsposten automatisch einspielen lässt: Banken die Hypothekenzinsen, Charity-Organisationen die gezahlten Spenden. Aber auch hier macht der Staat verdächtig wenig Anstalten, solche Ideen aufzugreifen.
Ökonomen halten Menschen für rationale Wesen, auch wenn sie zu viel Steuer zahlen. Büromenschen in der Freizeit irritiert alles massiv, was sie an ihre Arbeit erinnert.
Warum? Weil auch Politiker rationale Wesen sind, mit einer ganz eigenen Agenda: Sie wollen Wahlen gewinnen. Zu diesem Zweck versprechen sie im Wahlkampf Steuererleichterungen für ihre Zielgruppen als den Königsweg ins irdische Paradies, auch wenn sie genau wissen, dass sich die dadurch erzielbaren Wohlfahrtsgewinne sehr in Grenzen halten. Was sich nach der Einführung des „Zuckerls“auch bald herausstellt. Allerdings wäre es für ihre Karriere sehr schädlich, einmal gewährte Vergünstigungen wieder abzuschaffen, weil das eine ganz schlechte Optik ergibt und Stimmen kostet.
Aber die Politik kann noch auf ganz andere Weise korrigieren. Benzarti schreibt: „Eine Möglichkeit, um sicherzustellen, dass Steuerzahler Abzugsmöglichkeiten gar nicht nutzen, ist es, ihnen hohe Kosten für die Mühe aufzubürden“. Quod non erat demonstrandum. Denn das hätten wir auch ohne ökonomische Forschung geahnt.