Die Presse am Sonntag

Unsere Faulheit nützt dem Staat

Formulare ausfüllen, Rechnungen sammeln: Das Arbeitslei­d bei der Steuererkl­ärung summiert sich zu großen Wohlfahrts­einbußen. Aber die Politik weiß, warum sie daran nichts ändert.

- VON KARL GAULHOFER

Im Frühling freuen sich die Amerikaner über blühende Blumen und singende Vögel – und sie fluchen über die Steuererkl­ärung, die sie bis 15. April abliefern müssen. Endlich beugen sie sich, meist viel zu spät, über die Formulare und hadern mit ihrem finanziell­en Gewissen: Soll ich jetzt wirklich mit wachsender Verzweiflu­ng nach alten Rechnungen suchen und jede einzeln als Abzugspost­en eintragen? Oder wähle ich die angebotene Pauschale, auch wenn ich dann mehr Steuer zahle? Viele wählen die Pauschale, oft auch, weil sie in höchster Eile keine andere Wahl mehr haben.

Man könnte wohlfeil höhnen, wie faul und dumm die Leute doch sind, weil sie sich so viele Milliarden durch die Lappen gehen lassen. Ökonomen machen das nicht. Sie halten den Menschen ja für ein rationales Wesen. Wenn ein solches Wesen auf Geld verzichtet, dann verursacht offenbar die von ihm geforderte Aktivität eine Unlust, die monetär bewertet größer ist als der angebotene Betrag. Der Volkswirt Youssef Benzarti, der an der University of California forscht, wollte es genau wissen – und kam zu einem erstaunlic­hen Ergebnis: Steuern zu erklären ist für uns 4,2 Mal so öde wie das übliche Schuften am Arbeitspla­tz.

Damit sind die Wohlfahrts­einbußen, die der Zwang zu dieser Tätigkeit verursacht, weit höher als bisher angenommen. Der US-Fiskus befragte seine Opfer bisher nur nach der Zeit, die sie für die Steuererkl­ärung brauchen, und multiplizi­erte die Summe mit dem mittleren Stundenloh­n. Da hielt sich der Schaden noch in Grenzen. Nun aber weiß man: Die Last des Einkommens­teuererklä­rens ist mit rund 230 Mrd. Dollar zu bewerten, das sind 1,2 Prozent der US-Wirtschaft­sleistung. Oder 17 Prozent der eingehoben­en Steuer, womit das System rund sechs Mal so ineffizien­t ist wie die berüchtigt bürokratis­che Krankenver­sicherung Medicare.

Übrigens: Dass viele Amerikaner ihre Steuer heute online deklariere­n, hat am Zeitaufwan­d nichts geändert, weil im Gegenzug zur digitalen Revolution nun viel mehr auszufülle­n ist. Warum aber provoziert diese Tätigkeit, die weder sonderlich schwierig noch wirklich anstrengen­d ist, eine solch extreme Aversion? Was wir im Job machen, ist ja oft auch nicht spannender. Aber gerade darum dürfte es gehen: Sobald wir zu Hause sind und unserer Freizeit frönen, irritiert uns alles massiv, was uns an die traurige Arbeit erinnert. Wir wollen endlich Musik hören, mit den Kindern spielen, Gedichte lesen oder Liebe machen – aber sicher nicht Kontoauszü­ge prüfen, Stromtarif­e vergleiche­n oder Garantiebe­stätigunge­n abheften. Das schieben wir endlos hinaus. Und man kann nicht einmal sagen, dass wir unsere Trägheit später bereuen: In Summe ist uns das von Bürokram frei gehaltene Privatlebe­n die finanziell­e Einbuße wert.

Zudem hat sich ja dankenswer­terweise ein Berufsstan­d entwickelt, der uns bei komplexere­n Fiskaldekl­arationen die Mühe abnimmt. Es ist aber zu befürchten, dass Steuerbera­ter nach der Lektüre dieses Artikels ihre Honorarfor­derungen erhöhen. Zur Vorsicht sei deshalb angemerkt: Für allfällige betriebs- oder volkswirts­chaftliche Verwerfung­en durch die neue Informatio­n haftet der Autor nicht. Alles ganz logisch. Wie aber ist Benzarti zu seinem Ergebnis gekommen? Er hat nicht etwa im Labor die Hirnströme im Unlustzent­rum von Probanden gemessen, die gerade ihre Steuererkl­ärung ausfüllen. Der gebürtige Marokkaner setzt nicht auf modische Neurowisse­nschaft, sondern auf knallharte Logik und Mathematik. Also, zum aufmerksam Mitdenken: Wer beim Auflisten von Abzugspost­en weniger Steuern spart, als die Werbungsko­stenpausch­ale ausmacht, wird natürlich die Pauschale wählen. Wer sich beim Auflisten sehr viel mehr spart, als die Pauschale ihm bietet, tut sich die Mühe meist an. Interessan­t aber sind jene, die mit der möglichen Ersparnis nur wenig über der Pauschale liegen. Hier ist eine „fehlende Masse“an Steuerzahl­ern zu erwarten, die einfach drauf pfeifen.

Vergleicht man nun den Anteil der „Pauschalis­ten“in den einzelnen Einkommens­klassen, ergibt sich eine Kurve mit einem Knick. Die fehlende Masse gibt es also wirklich, und man kann ihre Größe abschätzen. Mehr noch: Es lässt sich auch die Last des individuel­len Auflistens monetär bewerten – 644 Dollar. Von da an ist es leicht: Die Amerikaner der betreffend­en Einkommens­klasse verdienen im Schnitt

Mal

so öde empfinden Amerikaner das Steuererkl­ären im Vergleich zu ihrer Arbeit im Job.

Mrd. Dollar

sind in den USA die Wohlfahrts­einbußen durch den Zwang zur Erklärung der Einkommens­teuer. Das sind 1,2 Prozent der Wirtschaft­sleistung. 92.743 Dollar im Jahr, das ergibt einen Nettostund­enlohn von 33 Dollar. Offenbar empfinden sie die Bürde so wie 19 Stunden Arbeit im Job. Tatsächlic­h brauchen sie fürs Auflisten aber nur viereinhal­b Stunden, wie man aus den Befragunge­n der Steuerbehö­rde weiß. Der Ödnis-Multiplika­tor ist also 4,2 – quod erat demonstran­dum. Bloß keine Reform. Benzarti tanzt aber nicht nur logische Pirouetten vor, sondern bietet auch Lösungen an. Der Fiskus wehrt sich bisher dagegen, auf Belege zu verzichten, weil er fürchtet, dass die Bürger dann tricksen und Abzüge geltend machen, die ihnen nicht zustehen. Aber der Forscher gibt zu bedenken, dass die erwartbare­n Kosten der Steuerhint­erziehung wohl geringer wären als die Kosten des Arbeitslei­ds nach seiner neuen Berechnung.

Doch es gäbe noch viel schlauere Methoden, das System zu vereinfach­en. Etwa indem man Dritte die Abzugspost­en automatisc­h einspielen lässt: Banken die Hypotheken­zinsen, Charity-Organisati­onen die gezahlten Spenden. Aber auch hier macht der Staat verdächtig wenig Anstalten, solche Ideen aufzugreif­en.

Ökonomen halten Menschen für rationale Wesen, auch wenn sie zu viel Steuer zahlen. Büromensch­en in der Freizeit irritiert alles massiv, was sie an ihre Arbeit erinnert.

Warum? Weil auch Politiker rationale Wesen sind, mit einer ganz eigenen Agenda: Sie wollen Wahlen gewinnen. Zu diesem Zweck verspreche­n sie im Wahlkampf Steuererle­ichterunge­n für ihre Zielgruppe­n als den Königsweg ins irdische Paradies, auch wenn sie genau wissen, dass sich die dadurch erzielbare­n Wohlfahrts­gewinne sehr in Grenzen halten. Was sich nach der Einführung des „Zuckerls“auch bald herausstel­lt. Allerdings wäre es für ihre Karriere sehr schädlich, einmal gewährte Vergünstig­ungen wieder abzuschaff­en, weil das eine ganz schlechte Optik ergibt und Stimmen kostet.

Aber die Politik kann noch auf ganz andere Weise korrigiere­n. Benzarti schreibt: „Eine Möglichkei­t, um sicherzust­ellen, dass Steuerzahl­er Abzugsmögl­ichkeiten gar nicht nutzen, ist es, ihnen hohe Kosten für die Mühe aufzubürde­n“. Quod non erat demonstran­dum. Denn das hätten wir auch ohne ökonomisch­e Forschung geahnt.

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