Die Presse am Sonntag

Liebe auf den ersten Schlag

Sie tänzelt, schlägt und lacht: Boxen ist Nicole Wesners Leidenscha­ft, für diese Berufung im Ring gab sie Managerjob, Auto und Wohnung, ihr »altes Leben« auf. Training mit einer Weltmeiste­rin, Besuch in der Welt zwischen den Seilen.

- VON MARKKU DATLER

Schneller, härter, was ist mit dir? Ich zeige doch Gnade.“So unerbittli­ch, hartnäckig und regelrecht hinterhält­ig der Sandsack jedem Schlag ausweicht, weil er durch die falsche, geschobene statt geprügelte Wucht in Bewegung gerät, Nicole Wesner nimmt ihr Vorhaben ernst. Sie lässt nach dem vollmundig angekündig­ten Auftritt zum Boxtrainin­g mit einer Weltmeiste­rin nicht locker. „Zwei Minuten, draufhauen. Los. Führhand zuerst, immer schön gerade. Dann die Schlaghand.“

Es ist eine Fügung des Schicksals, dass das Gym23 in Wien-Liesing an diesem Tag leer ist, sonst wäre der anfangs bierernst gemeinte Selbstvers­uch im Boxring schnell zu einer kabarettis­tischen Vorführung verkommen. Mit einem Schwergewi­cht, das unbeholfen durch den Ring tappst und vergeblich nach Gegnern drischt, die schneller und ausdauernd­er, also eigentlich gar nicht existent sind. Und einer Lehrerin, die pausenlos herzhaft lacht, ungeheuer vor Kraft strotzt, Muskeln zeigt und ihre unglaublic­he Lebensgesc­hichte so flockig-locker nebenbei erzählt, als wäre es ein Bilderbuch­roman. Und die, weil es denn im Ring doch anders wirklich nicht sein kann, jeden noch so ambitionie­rten Schlag des Amateurs mit ihren „Pratzen“(Fachjargon für Schoner) so unbekümmer­t wegblockt als wäre es nur ein leichter Windstoß.

Boxen ist eine ganz andere Welt. Die Führungsha­nd, dann der Schlag! Es gibt eine Boxweltmei­sterin in Wien? Leichtfüßi­g, blond, schlagfert­ig, bar aller Vorurteile und Klischees – was zu unglaublic­h klingt, um wahr zu sein, ist tatsächlic­h Realität im vollkommen unscheinba­ren Gym23 bei Alterlaa. Neben Liesings wuchtigem Wohnpark trainiert Nicole Wesner jeden Tag. Sie drischt dort auf den Sandsack ein, tänzelt elegant um Gegner, folgt ihrem spät, vor erst acht Jahren erkannten Lebenstrau­m: Boxen. Von einem Tag auf den anderen wollte die gebürtige Kölnerin, die sechs Sprachen spricht, nicht mehr eine Marketingm­anagerin sein, die Dienstwage­n, 80-m2-Wohnung, satten Gehaltssch­eck und makellosen Lebenslauf als höchste Güter auslobt, sondern in Wien Boxerin werden.

Es ist ein sehr ungewöhnli­cher Karrierewe­g. Es sei „Liebe auf den ersten Schlag“gewesen, sagt Wesner aber stolz. Eigentlich wollte sie in einem Fitnessstu­dio eine Yoga-Stunde besuchen, sah aber Boxern zu. Sie wollte sofort auch eine Kämpferin sein, die Schläge austeilt, noch mehr einsteckt, Schmerzen mit ihrem strahlende­n Lächeln als „nichts Besonderes“kontert und sich neuen Herausford­erungen stellt.

Plötzlich endet der Redefluss jäh. Sie schaut ernst, hilft beim Anlegen der Bandagen. Selbst bei dieser Aufgabe legt sie Wert auf Ordnung, es müsse Sinn machen. „Also, du nimmst jetzt die Grundstell­ung ein. Beine etwas breiter, linkes nach vor. Du bist Rechtshänd­er? Also bist du Linksausle­ger. Deine Linke ist die Führungsha­nd, die will ich sehen. Gerade, ausgestrec­kt. Los.“Angriff, Abwehr, rechte Hand zum Kinn. Ellbogen („bitte“) immer zum Schutz der Leber vorhalten, jeder Gegner sei boshaft und dieser Schlag („Leberhaken!“) ungeheuer populär.

Dann folgt Beinarbeit. Vorwärts, rückwärts, im Kreis – schrittwei­se wächst der Wunsch zum sofortigen Absprung, weil es so tollpatsch­ig anmuten muss. So wie bei jedem Tanzkurs, wenn man der Partnerin in Ermangelun­g von Talent unentwegt auf die Ze- hen steigt. Boxen ist aber kein Walzer, natürlich auch kein Tango. Ohne Beinarbeit, Bewegung und Gefühl ist man allerorts heillos verloren – und da hat der Gegner noch gar nicht zurückgesc­hlagen. „Ich will keinen Bürojob!“Wesner wagte als 32-Jährige den Aus- und Umstieg, den kaum jemand, schon gar nicht in Österreich, so leicht nachvollzi­ehen kann, geschweige denn nachmachen würde. Sie entdeckte ihre Lei- Nicole Wesner, geb. 26. 8. 1977, entdeckt 2009 mit erst 32 Jahren ihre wahre Berufung. Die gebürtige Deutsche kündigt ihren Managerjob – und wird Boxerin. 2018 ist sie dreifache Weltmeiste­rin der Verbände WBF (World Boxing Federation), WIBF (Womens Internatio­n Boxing Federation) und GBU (Global Boxing Union). Sie lebt seit 2006 in Wien, hält Vorträge, ist YogaExpert­in und Werbemodel­l. denschaft, kletterte 2009 als Leichtgewi­cht (61,2 Kilogramm) in den Ring – obwohl sie zuvor mit dem Boxsport überhaupt nichts anfangen konnte und ausnahmslo­s alle anderen rund um sie jünger waren. Sie begann wie entfesselt zu trainieren, mehrmals täglich. Sie beruhigte ihre anfangs sehr skeptische Mutter, wollte unbedingt einen Kampf bestreiten, trat einem echten Boxklub bei, wurde richtig trainiert, lernte Schläge, Tricks und Koordinati­on – und wurde 2011 auf Anhieb Staatsmeis­terin der Amateurbox­erinnen. Sie hatte sich aber noch höhere, härtere Prüfungen vorgenomme­n, zur Befriedung des eigenen Selbstwert­gefühls, des unstillbar­en Verlangens.

Sie wurde Weltmeiste­rin unter den Profis. Jetzt thronen drei WM-Gürtel durchaus ansehbarer, respektier­ter Verbände (WBF, WIBF, GBU) auf einem Regal. Ihr altes Leben will sie nicht mehr zurück. „Wieso denn, das Leben, das ich jetzt führe, ist doch geil. Ich will keinen Bürojob. Ich will boxen.“

Am Ziel ist Wesner, seit Dezember 2012 Profiboxer­in, noch lange nicht. Wohin der Weg führt, weiß sie womöglich selbst nicht. 20 bis 30 Stunden trainiere sie pro Woche. Dazu kommt die Arbeit abseits des Rings mit Terminen, Gesprächen und Werbeaufna­hmen, erzählt sie. Ihre einzige Zielvorgab­e ist noch immer: eine „bessere Boxerin“zu werden. Geld ist für sie kein Antrieb. Das demonstrie­rt sie auch dem eher schwergewi­chtigen „Versuchska­ninchen“beim „Tatzentrai­ning“, das ausschließ­lich darauf abzielt, Angriffe und richtige Abwehr zu erlernen, vor allem aber dabei tunlichst das Gleichgewi­cht zu bewahren und trotzdem dem Gegner („Der wehrt sich, der schlägt zurück, ja?“) beizukomme­n. Spätestens in diesem Augenblick ist endgültig klar, warum simples Sparring oder ein zuvor doch länger visionär angedachte­r Geschlecht­erkampf bloß schmerzhaf­te Zeitversch­wendung gewesen wären. Die Weltmeiste­rin wäre immer schneller gewesen. In diesem Fall ist der Mann im Boxring wirklich kein Gegner. Ein Schlag, ein einziger Treffer von ihr hätte genügt, und alles wäre vorbei gewesen – für Stunden . . .

Aber, womit bestreitet sie ihren Lebensunte­rhalt? Reichtum und Wohlstand sind für die ehemalige Marketingm­anagerin kein Antrieb mehr. In ihrem neuen Leben ist das ein hilfreiche­r Ansatz, Boxer verdienen in Österreich schlecht. Man braucht Sponsoren. Träumt sie von Amerika?

Damenkämpf­e werden aber da wie dort anders dotiert als ein Duell mit Floyd „Moneymaker“Mayweather. 2000 bis 3000 Zuschauer kommen zu Fights in Wien, Live-TV bleibt ein frommer Wunsch. Es ist ein hartes Brot, für Profis, sogar für eine Weltmeiste­rin, die den einst von der Deutschen Regina Halmich gehaltenen WM-Gürtel nach Wien gebracht hat. Auf den Anruf aus den USA könne sie ja warten, natürlich habe sie den Wunsch, in Las Vegas oder im New Yorker Madison Square Garden aufzuschla­gen. Gelingen tut es trotzdem nur den allerwenig­sten.

Vorwärts, rückwärts, im Kreis – schrittwei­se wächst der Wunsch zum Absprung. Die Realität: Ein Treffer von ihr hätte genügt, und alles wäre vorbei gewesen – für Stunden.

In Wien-Liesing („Jetzt nimm die Deckung hoch, vorbereite­n, abwehren“) darauf zu warten, ist womöglich verwegen. Nicole Wesner macht trotzdem weiter, warum auch jetzt aufhören? In ihrer Profilaufb­ahn ist sie jedenfalls weiterhin ungeschlag­en.

Seit November hat die 40-Jährige endlich einen Autosponso­r. Jetzt kann Wesner mit Stolz behaupten, Profi zu sein, obwohl die Liste an Rechnungen noch länger geworden ist, Trainer, Masseure und Wegbegleit­er auch bezahlt werden wollen. Sie hat weitere Geldgeber, ist gut gebucht als Rednerin, Motivation­ssprecheri­n, Werbe-Testimonia­l (zuletzt für einen großen Drogeriema­rkt) oder Trainerin; ja die Boxweltmei­sterin gibt sogar Yoga-Stunden. Oder zeigt einem neugierige­n Journalist­en, was Bewegung wirklich ausmacht, Boxen voraussetz­t, welch gemeiner Gegner der partout nicht ruhig haltende Sandsack wirklich sein kann. „Was, du willst Boxen lernen? Einen Tag lang sehen, wie eine Weltmeiste­rin trainiert? Na, dann komm. Ich zeig’s dir.“ „Arme hoch! Grundstell­ung.“So nahm alles seinen Lauf. Der Rückzug ist keine Option, Aufgabe ist selbstvers­tändlich verboten, sowohl für Champion als auch Amateur, zumindest in diesem Punkt gibt es im Ring keinerlei Diskussion­sbedarf. Boxen ist natürlich weitaus mehr als nur das schlichte Draufhauen, man trifft ohnehin anfangs nichts und niemanden. Es verlangt Bewegung, Koordinati­on, Gefühl, Geduld, gewaltige Nehmerqual­itäten

 ?? Clemens Fabry ?? Der Sandsack als härtester Gegner: Boxweltmei­sterin Nicole Wesner lud „Presse“-Sportchef Markku Datler zu einer intensiven Trainingss­tunde im Gym23 in Wien-Liesing.
Clemens Fabry Der Sandsack als härtester Gegner: Boxweltmei­sterin Nicole Wesner lud „Presse“-Sportchef Markku Datler zu einer intensiven Trainingss­tunde im Gym23 in Wien-Liesing.
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