Liebe auf den ersten Schlag
Sie tänzelt, schlägt und lacht: Boxen ist Nicole Wesners Leidenschaft, für diese Berufung im Ring gab sie Managerjob, Auto und Wohnung, ihr »altes Leben« auf. Training mit einer Weltmeisterin, Besuch in der Welt zwischen den Seilen.
Schneller, härter, was ist mit dir? Ich zeige doch Gnade.“So unerbittlich, hartnäckig und regelrecht hinterhältig der Sandsack jedem Schlag ausweicht, weil er durch die falsche, geschobene statt geprügelte Wucht in Bewegung gerät, Nicole Wesner nimmt ihr Vorhaben ernst. Sie lässt nach dem vollmundig angekündigten Auftritt zum Boxtraining mit einer Weltmeisterin nicht locker. „Zwei Minuten, draufhauen. Los. Führhand zuerst, immer schön gerade. Dann die Schlaghand.“
Es ist eine Fügung des Schicksals, dass das Gym23 in Wien-Liesing an diesem Tag leer ist, sonst wäre der anfangs bierernst gemeinte Selbstversuch im Boxring schnell zu einer kabarettistischen Vorführung verkommen. Mit einem Schwergewicht, das unbeholfen durch den Ring tappst und vergeblich nach Gegnern drischt, die schneller und ausdauernder, also eigentlich gar nicht existent sind. Und einer Lehrerin, die pausenlos herzhaft lacht, ungeheuer vor Kraft strotzt, Muskeln zeigt und ihre unglaubliche Lebensgeschichte so flockig-locker nebenbei erzählt, als wäre es ein Bilderbuchroman. Und die, weil es denn im Ring doch anders wirklich nicht sein kann, jeden noch so ambitionierten Schlag des Amateurs mit ihren „Pratzen“(Fachjargon für Schoner) so unbekümmert wegblockt als wäre es nur ein leichter Windstoß.
Boxen ist eine ganz andere Welt. Die Führungshand, dann der Schlag! Es gibt eine Boxweltmeisterin in Wien? Leichtfüßig, blond, schlagfertig, bar aller Vorurteile und Klischees – was zu unglaublich klingt, um wahr zu sein, ist tatsächlich Realität im vollkommen unscheinbaren Gym23 bei Alterlaa. Neben Liesings wuchtigem Wohnpark trainiert Nicole Wesner jeden Tag. Sie drischt dort auf den Sandsack ein, tänzelt elegant um Gegner, folgt ihrem spät, vor erst acht Jahren erkannten Lebenstraum: Boxen. Von einem Tag auf den anderen wollte die gebürtige Kölnerin, die sechs Sprachen spricht, nicht mehr eine Marketingmanagerin sein, die Dienstwagen, 80-m2-Wohnung, satten Gehaltsscheck und makellosen Lebenslauf als höchste Güter auslobt, sondern in Wien Boxerin werden.
Es ist ein sehr ungewöhnlicher Karriereweg. Es sei „Liebe auf den ersten Schlag“gewesen, sagt Wesner aber stolz. Eigentlich wollte sie in einem Fitnessstudio eine Yoga-Stunde besuchen, sah aber Boxern zu. Sie wollte sofort auch eine Kämpferin sein, die Schläge austeilt, noch mehr einsteckt, Schmerzen mit ihrem strahlenden Lächeln als „nichts Besonderes“kontert und sich neuen Herausforderungen stellt.
Plötzlich endet der Redefluss jäh. Sie schaut ernst, hilft beim Anlegen der Bandagen. Selbst bei dieser Aufgabe legt sie Wert auf Ordnung, es müsse Sinn machen. „Also, du nimmst jetzt die Grundstellung ein. Beine etwas breiter, linkes nach vor. Du bist Rechtshänder? Also bist du Linksausleger. Deine Linke ist die Führungshand, die will ich sehen. Gerade, ausgestreckt. Los.“Angriff, Abwehr, rechte Hand zum Kinn. Ellbogen („bitte“) immer zum Schutz der Leber vorhalten, jeder Gegner sei boshaft und dieser Schlag („Leberhaken!“) ungeheuer populär.
Dann folgt Beinarbeit. Vorwärts, rückwärts, im Kreis – schrittweise wächst der Wunsch zum sofortigen Absprung, weil es so tollpatschig anmuten muss. So wie bei jedem Tanzkurs, wenn man der Partnerin in Ermangelung von Talent unentwegt auf die Ze- hen steigt. Boxen ist aber kein Walzer, natürlich auch kein Tango. Ohne Beinarbeit, Bewegung und Gefühl ist man allerorts heillos verloren – und da hat der Gegner noch gar nicht zurückgeschlagen. „Ich will keinen Bürojob!“Wesner wagte als 32-Jährige den Aus- und Umstieg, den kaum jemand, schon gar nicht in Österreich, so leicht nachvollziehen kann, geschweige denn nachmachen würde. Sie entdeckte ihre Lei- Nicole Wesner, geb. 26. 8. 1977, entdeckt 2009 mit erst 32 Jahren ihre wahre Berufung. Die gebürtige Deutsche kündigt ihren Managerjob – und wird Boxerin. 2018 ist sie dreifache Weltmeisterin der Verbände WBF (World Boxing Federation), WIBF (Womens Internation Boxing Federation) und GBU (Global Boxing Union). Sie lebt seit 2006 in Wien, hält Vorträge, ist YogaExpertin und Werbemodell. denschaft, kletterte 2009 als Leichtgewicht (61,2 Kilogramm) in den Ring – obwohl sie zuvor mit dem Boxsport überhaupt nichts anfangen konnte und ausnahmslos alle anderen rund um sie jünger waren. Sie begann wie entfesselt zu trainieren, mehrmals täglich. Sie beruhigte ihre anfangs sehr skeptische Mutter, wollte unbedingt einen Kampf bestreiten, trat einem echten Boxklub bei, wurde richtig trainiert, lernte Schläge, Tricks und Koordination – und wurde 2011 auf Anhieb Staatsmeisterin der Amateurboxerinnen. Sie hatte sich aber noch höhere, härtere Prüfungen vorgenommen, zur Befriedung des eigenen Selbstwertgefühls, des unstillbaren Verlangens.
Sie wurde Weltmeisterin unter den Profis. Jetzt thronen drei WM-Gürtel durchaus ansehbarer, respektierter Verbände (WBF, WIBF, GBU) auf einem Regal. Ihr altes Leben will sie nicht mehr zurück. „Wieso denn, das Leben, das ich jetzt führe, ist doch geil. Ich will keinen Bürojob. Ich will boxen.“
Am Ziel ist Wesner, seit Dezember 2012 Profiboxerin, noch lange nicht. Wohin der Weg führt, weiß sie womöglich selbst nicht. 20 bis 30 Stunden trainiere sie pro Woche. Dazu kommt die Arbeit abseits des Rings mit Terminen, Gesprächen und Werbeaufnahmen, erzählt sie. Ihre einzige Zielvorgabe ist noch immer: eine „bessere Boxerin“zu werden. Geld ist für sie kein Antrieb. Das demonstriert sie auch dem eher schwergewichtigen „Versuchskaninchen“beim „Tatzentraining“, das ausschließlich darauf abzielt, Angriffe und richtige Abwehr zu erlernen, vor allem aber dabei tunlichst das Gleichgewicht zu bewahren und trotzdem dem Gegner („Der wehrt sich, der schlägt zurück, ja?“) beizukommen. Spätestens in diesem Augenblick ist endgültig klar, warum simples Sparring oder ein zuvor doch länger visionär angedachter Geschlechterkampf bloß schmerzhafte Zeitverschwendung gewesen wären. Die Weltmeisterin wäre immer schneller gewesen. In diesem Fall ist der Mann im Boxring wirklich kein Gegner. Ein Schlag, ein einziger Treffer von ihr hätte genügt, und alles wäre vorbei gewesen – für Stunden . . .
Aber, womit bestreitet sie ihren Lebensunterhalt? Reichtum und Wohlstand sind für die ehemalige Marketingmanagerin kein Antrieb mehr. In ihrem neuen Leben ist das ein hilfreicher Ansatz, Boxer verdienen in Österreich schlecht. Man braucht Sponsoren. Träumt sie von Amerika?
Damenkämpfe werden aber da wie dort anders dotiert als ein Duell mit Floyd „Moneymaker“Mayweather. 2000 bis 3000 Zuschauer kommen zu Fights in Wien, Live-TV bleibt ein frommer Wunsch. Es ist ein hartes Brot, für Profis, sogar für eine Weltmeisterin, die den einst von der Deutschen Regina Halmich gehaltenen WM-Gürtel nach Wien gebracht hat. Auf den Anruf aus den USA könne sie ja warten, natürlich habe sie den Wunsch, in Las Vegas oder im New Yorker Madison Square Garden aufzuschlagen. Gelingen tut es trotzdem nur den allerwenigsten.
Vorwärts, rückwärts, im Kreis – schrittweise wächst der Wunsch zum Absprung. Die Realität: Ein Treffer von ihr hätte genügt, und alles wäre vorbei gewesen – für Stunden.
In Wien-Liesing („Jetzt nimm die Deckung hoch, vorbereiten, abwehren“) darauf zu warten, ist womöglich verwegen. Nicole Wesner macht trotzdem weiter, warum auch jetzt aufhören? In ihrer Profilaufbahn ist sie jedenfalls weiterhin ungeschlagen.
Seit November hat die 40-Jährige endlich einen Autosponsor. Jetzt kann Wesner mit Stolz behaupten, Profi zu sein, obwohl die Liste an Rechnungen noch länger geworden ist, Trainer, Masseure und Wegbegleiter auch bezahlt werden wollen. Sie hat weitere Geldgeber, ist gut gebucht als Rednerin, Motivationssprecherin, Werbe-Testimonial (zuletzt für einen großen Drogeriemarkt) oder Trainerin; ja die Boxweltmeisterin gibt sogar Yoga-Stunden. Oder zeigt einem neugierigen Journalisten, was Bewegung wirklich ausmacht, Boxen voraussetzt, welch gemeiner Gegner der partout nicht ruhig haltende Sandsack wirklich sein kann. „Was, du willst Boxen lernen? Einen Tag lang sehen, wie eine Weltmeisterin trainiert? Na, dann komm. Ich zeig’s dir.“ „Arme hoch! Grundstellung.“So nahm alles seinen Lauf. Der Rückzug ist keine Option, Aufgabe ist selbstverständlich verboten, sowohl für Champion als auch Amateur, zumindest in diesem Punkt gibt es im Ring keinerlei Diskussionsbedarf. Boxen ist natürlich weitaus mehr als nur das schlichte Draufhauen, man trifft ohnehin anfangs nichts und niemanden. Es verlangt Bewegung, Koordination, Gefühl, Geduld, gewaltige Nehmerqualitäten