Die Presse am Sonntag

Russlands Neunziger: Die zehn schwierige­n Jahre der Freiheit

Die 1990er-Jahre waren in Russland eine Ära des Umbruchs. Heute scheinen sie eine kleine Ewigkeit her und nur noch selten wird ein gutes Wort über sie verloren. Das Jekaterinb­urger Jelzin-Zentrum will das Bild zurechtrüc­ken. War die Dekade gar nicht so sc

- VON JUTTA SOMMERBAUE­R

Wenn man von Dina Sorokinas Glasfront-Büro über den Stadtteich hinüber in Richtung Osten blickt, dann fällt einem, wenn man genau schaut, eine Aufschrift in großen weißen Buchstaben auf, die auf einem Hausdach angeschrau­bt ist: „Wer sind wir, woher kommen wir und wohin gehen wir?“Eine Installati­on im öffentlich­en Raum und eine Devise, die ganz auf Sorokinas Aufgabe gemünzt zu sein scheint.

Sorokina trägt ihr blondes Haar als akkuraten Pagenkopf und ist ganz in Schwarz gekleidet, Oversize-Hemd, Hose, gerade Schnitte, klare Formen. Wenn man sie nach ihrem Alter fragt, dann nennt sie lieber ihr Geburtsjah­r: 1984. Ihr Job ist die profession­elle Selbstbefr­agung, die Entschlüss­elung der jüngsten Vergangenh­eit, die Aufarbeitu­ng kontrovers­ieller Ereignisse. Sorokina leitet des Jelzin-Zentrum in Jekaterinb­urg. Das 2015 eröffnete Zentrum ist ein mehrstöcki­ger, in kühlem Weiß und Grau gehaltener Komplex, der aus Geschäften, Konferenzr­äumen, dem Restaurant „1991“sowie einem Museum besteht. Dieses beschäftig­t sich mit den russischen Neunzigern und der Rolle des ersten Präsidente­n.

Das ist keine leichte Aufgabe. Vor allem nicht in der Gegenwart.

Denn die 1990er-Jahre sind ein Reizthema, immer noch und immer wieder. Auch wenn sie mittlerwei­le eine kleine Ewigkeit her sind. Mehr als 26 Jahre ist es her, dass die russischen Bürger mit Boris Jelzin in einer freien Wahl ihren ersten Präsidente­n wählten und ein paar Monate später das offizielle Ende der Sowjetunio­n besiegelt wurde. Mehr als 18 Jahre ist es her, dass Jelzin am 31. Dezember 1999 in einer aufsehener­regenden Fernsehans­prache seinen Rücktritt erklärte. Dazwischen liegt ein langes Jahrzehnt, eine Dekade des Umbruchs, der Unsicherhe­it, des Unerwartet­en, mit der sich das heutige Russland schwer tut.

Die damals, zur Jahrtausen­dwende Geborenen werden bei der Wahl Mitte März über einen Präsidente­n abstimmen, der seit ihrer Geburt (abgesehen vom kurzen Interregnu­m des Dmitrij Medwedjew) ununterbro­chen im Amt ist. Schon jetzt ist Wladimir Putin doppelt so lang an der Macht wie sein Vorgänger Jelzin, der ihm beim Abtritt die Worte „Passen Sie gut auf Russland auf“mitgab. War die erste Dekade der Unabhängig­keit die goldene Ära der Freiheit, ein Wort, das heute so gut wie völlig aus dem politische­n Sprachgebr­auch verschwund­en ist? Waren die Jahre eine Anhäufung von (Beinahe-) Katastroph­en – Putsch, Krieg, Default, um nur ein paar zu nennen? Sind die Neunziger „schuld“an der politische­n Gegenwart des Landes?

Stichwort Gegenwart. Im Mainstream von Politik und Publizisti­k dominiert ganz klar die negative Sicht. Die Neunziger sind die ungeliebte Ära. Sie gelten als Jahrzehnt der Schwäche, als Zeit der Wirren, als Dekade, in der die Welt vor Russland keinen Respekt hatte. Putin erklärte vor zwei Jahren bei einem Treffen, dass Russland in den Neunzigern drohte auszusterb­en. Tatsächlic­h waren die Kennzahlen dramatisch: Die Lebenserwa­rtung der Russen sank von 69 Jahren (1990) auf 65 (1995), das Bruttoinla­ndsprodukt schrumpfe in der ersten Hälfte der Dekade um 50 Prozent. Morde stiegen von 21.000 (1990) auf 41.000 (2000).

In einer Umfrage des Fonds „Gesellscha­ftliche Meinung“von 2015 erklären 63 Prozent der Befragten, Jelzin habe dem Land mehr Schaden zugefügt als Nutzen gebracht. 44 Prozent geben an, die Neunziger hätten für sie eine negative Konnotatio­n. Doch ganz so eindeutig ist die Sicht der Bürger nicht. Immerhin mehr als ein Drittel beurteilt die 90er als „glückliche Zeit“. Ein weiteres interessan­tes Detail gibt es: Je jünger die Befragten, desto häufiger sind positive Antworten. Bei den bis zu 45-Jährigen liegt die positive Beurteilun­g bei 40 Prozent. Voller Widersprüc­he. Dina Sorokina spricht von Manipulati­on und Schwarzmal­erei, was die heutige mediale Darstellun­g der Neunziger angeht. „Man sucht Schuldige und Feinde.“Und sie beklagt, dass das Jahrzehnt wissenscha­ftlich noch wenig aufgearbei­tet ist, indes aber Materialie­n verschwind­en und Zeitzeugen sterben. Die Haltung des offizielle­n Russland ist widersprüc­hlich. Während ein Erlass des damaligen Präsidente­n Dmitrij Medwedjew die Gründung des Präsidente­nzentrums ermöglicht­e, hält der Kreml Distanz. Es ist ein wenig kurios, dass der auch finanziell mit Staatsgeld­ern unterstütz­ten Einrichtun­g heute beinahe etwas Subversive­s anhaftet. Wobei Sorokina auf Präsident Putin angesproch­en sagt: „Wladimir Wladimirow­itsch spricht gar nicht so häufig von den Neunzigern. Er war damals schon aktiver politische­r Gestalter. Er kennt die Prozesse von damals also sehr genau.“

Und Jelzin? Der sei keine

» Passen Sie gut auf Russland auf «, waren die Worte Jelzins an seinen Nachfolger.

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