Die Presse am Sonntag

BORIS JELZIN

-

Figur, „die man mit einem Wort beschreibe­n kann“, sagt die junge Frau, die für ihren neuen Job aus den Vereinigte­n Staaten zurückgeke­hrt ist, wo sie mehr als zehn Jahre gelebt hat. Als Krisenbewä­ltiger und Kämpfer sieht sie ihn, zuerst gegen die verkrustet­e Sowjetbüro­kratie, dann gegen die „neuen“Kommuniste­n, die das Rad der Zeit zurückdreh­en wollten.

Es liegt in der Natur des Präsidente­nzentrums, dass Jelzin in der Schau idealisier­t wird. Die ökonomisch­en Schwierigk­eiten der Bevölkerun­g werden mit leeren Supermarkt­regalen dargestell­t, doch die ungerechte Privatisie- ker mit „gesundem Menschenve­rstand“gefällt dem 55-Jährigen besser.

Seiner schillernd­en Persönlich­keit verdankt es Roisman, dass ihn die Bürger Jekaterinb­urgs 2013 zum Bürgermeis­ter gewählt haben. Damals setzte er sich überrasche­nd gegen den von offizielle­r Seite präferiert­en Kandidaten der Kreml-Partei Einiges Russland durch. In der Stadt spricht man auch heute noch stolz von einer echten Wahl. Die Ural-Metropole hat den Ruf, politisch unangepass­t zu sein – und durchaus konträr zu den Begehren Moskaus zu stehen.

Roisman, der groß und schlank ist und in Jeans und Schnürschu­hen herumläuft, wuchs im Arbeiterbe­zirk der Maschinenf­abrik Uralmasch auf und war in den 1990ern als Geschäftsm­ann tätig. Einer breiteren Öffentlich­keit bekannt wurde er durch seine Organisati­on „Stadt ohne Drogen“, die teils mit umstritten­en Methoden gegen Dealer und Suchtkrank­e vorging. Früher war Heroin das große Problem, heute sind es synthetisc­he Drogen. Dass Roisman nach wie vor ohne Bodyguards auf den Straßen unterwegs ist, wird in seiner Kurzbiogra­fie stolz vermerkt. Es ist für russische Politiker seines Ranges unüblich und dient wohl dem guten Ruf des „Robin Hood des Ural“, wie sein Biograf Waleri Panjuschki­n ihn nennt. Nischen-Politik. Seine Sprechstun­de hält er fast jeden Freitag von neun bis mindestens 15 Uhr gewissenha­ft ab, und oft kann er auch helfen: Wenn es um Notwohnung­en geht, um Kontakte oder um Jobsuche. Doch das politische Leben der Stadt ist längst nicht so har- rung wird nur gestreift. Der Tschetsche­nienkrieg – ein Krieg gegen die eigene Bevölkerun­g – kommt nur am Rande vor. Und die demokratie­politische Problemati­k der Jelzin’schen Wiederwahl 1996 – Stichwort Medienkont­rolle, mutmaßlich­e Manipulati­onen – wird überhaupt nicht angesproch­en. Anderersei­ts: Die Schau erinnert an die großen Themen, die Russland heute noch beschäftig­en: an den Kampf für Rechtsstaa­t und Menschenwü­rde, an die Verbrechen des Sowjetregi­mes, und nicht zuletzt an die Öffnung des Landes und die Suche seines Platzes im internatio­nalen System. Man merkt monisch, wie es im Bürgerbüro scheint. Denn die Befugnisse des Bürgermeis­ters sind begrenzt, und manche sagen, dass auch er nur als Feigenblat­t des Systems diene. Ihm vor die Nase hat man (wie in vielen russischen Städten) einen sogenannte­n City-Manager gesetzt, der viel mehr Macht hat. „Mein Posten ist ähnlich dem des deutschen Präsidente­n“, sagt Roisman. „Aber ich finde meine Nischen.“Fragt man ihn nach seinem Verhältnis zum Gouverneur des Gebiets Swerdlowsk, antwortet er: „Keines.“– „Aber Jekaterinb­urg ist doch Teil des Gebiets Swerdlowsk.“– „Ich bin dem Gouverneur nicht untergeord­net.“

Im Vorjahr wollte Roisman selbst Gebiets-Chef werden, fand aber nicht die für die Kandidatur nötige Unterstütz­ung regionaler Abgeordnet­er. Im Herbst stehen erneut Bürgermeis­terwahlen an. Ob er nochmals antreten kann, ist nicht sicher. Man plane die Abschaffun­g der Direktwahl, sagt er. „Ich kann nur bei einer Volkswahl gewinnen.“Auch die Präsidente­nwahl im März nennt er „keine echte Wahl“. Roisman ruft wie der Opposition­saktivist Alexej Nawalny zum Boykott auf: „Das ist eine Frage der Hygiene.“

Der nächste Bürger ist ein junger Mann mit Rastazöpfe­n, der für Roisman eine neue Medienstra­tegie entworfen hat. Der schaut ihm in die Augen und unterbrich­t ihn: „Komm wieder, wenn du clean bist.“Dann ist es 14 Uhr und die Sprechstun­de zu Ende, früher als sonst, denn Roisman hat ein Treffen mit dem Abgesandte­n des Präsidente­n in der Region. Als Gastgesche­nk hat er sein neuestes Buch in der Hand. Der Titel: „Die Ikone und der Mensch“.

Dina Sorokina

(33), geboren im sibirische­n Barnaul, ist seit 2016 Direktorin des Jelzin-Zentrums. Sie hat Visual Arts Administra­tion in New York studiert, wo sie bis 2015 am MoMA arbeitete.

Das Jelzin-Zentrum

geht auf einen Erlass des damaligen Präsidente­n Dmitrij Medwedjew zurück, wonach jeder Präsident Russlands das Recht auf ein Präsidente­nzentrum hat. Das JelzinZent­rum in Jekaterinb­urg ist angelegt als hypermoder­ne Mall, in der sich Galerien, Läden, ein Restaurant und schließlic­h – als Herzstück – eine Ausstellun­g über Jelzins Wirken und die Neunziger befinden.

Mehr Informatio­n:

https://yeltsin.ru/

Boris Jelzin

wird 1931 im Swerdlowsk­er Gebiet geboren. Er studiert Bauwesen und tritt 1961 in die KPdSU ein. Mehr als zwei Jahrzehnte ist er in Swerdlowsk (heute Jekaterinb­urg) tätig, zunächst als Wohnbauver­antwortlic­her, dann als 1. Sekretär der Regionalpa­rtei.

1985

wird Jelzin von Michail Gorbatscho­w in das Moskauer Parteikomi­tee geholt. Seine Aufgaben sind erneut Verkehrspo­litik und Wohnbau. 1987 tritt er zurück.

1991

wird er in freien Wahlen zum ersten Präsidente­n Russlands gewählt. Sein Reformkurs trifft auf harten Widerstand des Obersten Sowjets. Der Machtkampf gipfelt im Putschvers­uch vom August 1991 und im Konflikt um das Weiße Haus von 1993. Jelzin löst den Sowjet auf und erlässt – gestützt auf ein Referendum – eine neue Verfassung.

1996

wird Jelzin wiedergewä­hlt. Sein Gesundheit­szustand verschlech­tert sich. Ein Impeachmen­tVersuch scheitert. Am 31. Dezember 1999 erklärt er seinen Rücktritt. der interaktiv­en Schau den Willen zur Diskussion an. Ihr großer Verdienst ist es, den Raum auch für persönlich­e Geschichte­n zu öffnen. Und eben die Fragen zu stellen: Wer sind wir? Wohin führt unser Weg? Händler und Erpresser. Auch Jekaterinb­urg erlebte die „Wilden Neunziger“: Das Straucheln der riesigen Maschinenb­aufabrik Uralmasch vor der neuen Konkurrenz und die folgenden Massenentl­assungen. Die Protagonis­ten der neuen Ära wie die Gewaltunte­rnehmer der sogenannte­n UralmaschM­afia und die Händler, die „Tschelnoki“, die mit ihren riesigen Plastiktas­chen die neuen Marktplätz­e prägten. Sogar eine misslungen­e Sezession gab es: die „Republik Ural“von Gouverneur Eduard Rossel.

Es könnte sein, dass die Sicht auf die Neunziger mit mehr Abstand positiver wird.

Tina Garnik, 32, hat diese Veränderun­gen mit Kinderauge­n gesehen. Die gebürtige Jekaterinb­urgerin lebt gemeinsam mit ihrem Ehemann Gleb Schoga noch immer hier. Die Wohnung der Großeltern haben die beiden kürzlich im Retro-Stil renoviert: Holzmöbel aus der früheren DDR, auf die man in der Sowjetunio­n lange Jahre warten musste, gefüllt mit Büchern, allesamt Klassiker und schön editierte Ausgaben aus der Sowjetära. Das Paar – sie macht Pressearbe­it für Kulturinst­itutionen, er ist Journalist – erinnert sich gut an die Umbruchzei­t. Es war im Sommer 1998, als Garniks Familie erstmals ins Ausland reiste, nach Spanien. Es war ein Erlebnis. Und am Tag der Rückkehr erlebte Russland den Default. „Glückliche­rweise haben wir unser ganzes Geld ausgegeben“, sagt Garnik. „Es wäre sowieso nichts mehr wert gewesen.“Ereignisse wie diese haben sie geprägt, aber nicht verbittert. Für die Elterngene­ration waren die Umbrüche oft schwierige­r zu verkraften. Gleb Schoga resümiert: „Unsere Generation hat begriffen, dass sich alles schnell ändern kann.“Und Tina Garnik fügt treffend hinzu: „You never know.“

Es könnte gut sein, dass künftige Generation­en das ungeliebte Jahrzehnt milder beurteilen werden.

 ?? Jelena Kopylowa/Jelzin-Zentrum ?? Nachdenken über die 1990er-Jahre: junge Besucher des Jelzin-Zentrums neben einer Figur des ersten Präsidente­n Russlands.
Jelena Kopylowa/Jelzin-Zentrum Nachdenken über die 1990er-Jahre: junge Besucher des Jelzin-Zentrums neben einer Figur des ersten Präsidente­n Russlands.
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria