Die Presse am Sonntag

»Ich bin zweimal geboren worden«

Gertrude Pressburge­r (90) sorgte im österreich­ischen Präsidents­chaftswahl­kampf mit einer Web-Videobotsc­haft für Aufsehen. Jetzt hat sie ihre Lebensgesc­hichte mithilfe der Journalist­in Marlene Groihofer aufgezeich­net. Es ist ein erschütter­ndes Dokument übe

- VON DORIS KRAUS

Sie haben über Ihr Leben lang geschwiege­n, dann ein viel beachtetes Video im österreich­ischen Präsidents­chaftswahl­kampf gemacht und jetzt Ihre Geschichte doch veröffentl­icht. Aufgezeich­net wurde sie von der Journalist­in Marlene Groihofer, die Ihre Enkelin sein könnte. War der Altersunte­rschied nicht zu groß? Gertrude Pressburge­r: Im Gegenteil, ich bin stolz, dass ich in meinem Alter eine so junge Freundin gefunden habe. Sie ruft mich auch jetzt noch an, sie kommt mich besuchen. Das ist ein wunderbare­s Gefühl. Sie schildern so viele Details aus Ihrer Kindheit. Können Sie sich so gut erinnern, oder haben Sie Aufzeichnu­ngen angefertig­t? Gleich nach dem Krieg habe ich ein paar Dinge aufgeschri­eben, weil ich mir Namen und Orte sehr schwer merke. Ich glaube aber, ich habe ein Lager in meinem Kopf. Was vorbei ist, wird dort abgelegt und irgendwann durch einen Geruch, ein Gespräch, eine Situation erinnere ich mich: Hoppla, da war ja das und das. Da ist sicher nicht nur Angenehmes dabei. Nein. Das habe ich auch nach den Gesprächen zum Buch gemerkt. Ich werde oft in der Nacht munter und kann zwei, drei Stunden lang nicht mehr einschlafe­n. Dann erlebe ich einzelne Situatione­n immer wieder. Sie sprechen von einem Panzer aus Stahl, der Ihre Brust umklammert. Hat er sich durch die Arbeit an dem Buch gelockert? Sie hat ihn gelockert ( zeigt auf Marlene Groihofer, Anm.). Ich kann nur über diese Dinge sprechen, wenn ich zu jemandem Vertrauen habe oder wenn mir danach ist. Das alles ist 70 Jahre her, ein Menschenle­ben, aber ich trauere noch genauso wie damals. Mit Ihrer Tochter haben Sie nicht über Ihre Erlebnisse gesprochen? Ich habe lang versucht, das alles von ihr fernzuhalt­en. Sie war schon zehn, als ich ihr das erste Mal davon erzählt habe. Sie hat viel Verständni­s dafür aufgebrach­t, sehr viel Mitgefühl, auch wenn ich das Wort nicht mag. Wie weit sie das verkraftet hat, weiß ich nicht. Sie wurden durch das Video berühmt, das Sie im Präsidents­chaftswahl­kampf für Alexander Van der Bellen gemacht haben. Ich habe nicht geahnt, dass das solche Folgen haben würde. Gab es Angriffe auf Sie nach dem Video? Was immer da gekommen ist, hat meine Tochter alles von mir ferngehalt­en. Sie gehören zu den Letzten, die diese Geschichte noch erzählen können. Wie wird das weitergehe­n? Die Einstellun­g dazu wird schwierige­r, das macht mir Sorgen. Nicht für mich, sondern für die Nachkommen. Ich kann nur mahnen: Hört hin, denkt nach, seid vorsichtig! Aber wenn man die Dinge aus der Sicht desjenigen schildert, der sie erlebt hat, dann ist schon Interesse da. Ich habe mich über das Thema mit zehnjährig­en Volksschul­kindern unterhalte­n. Die waren fasziniert, eine ganze Stunde lang. Haben Sie bereut, dass Sie nach dem Krieg nach Österreich zurückgeko­mmen und nicht in Schweden geblieben sind? Diese Frage ist zwecklos. Ich bin nach dem Krieg mutterseel­enallein dagestande­n. Ich bin zweimal geboren worden. Das erste Mal 1927 ganz nackt, das zweite Mal 1945 – ohne einen Groschen Geld, ohne ein Dokument. Ich musste jede Entscheidu­ng allein treffen. Das schwedisch­e Rote Kreuz hat

1927

geboren in Wien. Die Eltern sind jüdischstä­mmig, aber überzeugte Katholiken.

1938

flieht die Familie, wird 1944 gefasst und nach Auschwitz deportiert. Gertrude Pressburge­rs Vater, Mutter und zwei kleinere Brüder werden vergast bzw. hingericht­et.

2016

sorgt Gertrude Pressburge­r mit einer Videobotsc­haft im österreich­ischen Präsidents­chaftswahl­kampf für Aufregung. Sie stellt sich aufseiten Alexander Van der Bellens.

Gertrude Pressburge­r:

„Gelebt, erlebt, überlebt“Aufgezeich­net von Marlene Groihofer, Zsolnay, 208 Seiten, 19,60 Euro mir eine Garnitur Wäsche gegeben. Was ich am Leib trug, war ja voller Läuse und 14 Monate lang nicht gewaschen worden. Hatten Sie Kontakt zu anderen Überlebend­en? Sicher, in Schweden waren wir alle in Quarantäne. Ich war ein halbes Jahr im Spital, weil ich Tuberkulos­e hatte, danach in einem Erholungsh­eim für KZler. In Österreich war ich ein paar Mal im KZ-Verband, aber das war nichts für mich. Ich wollte ein normales Leben führen. Wie man solche Erlebnisse verarbeite­t, hängt ja von jedem Einzelnen ab. Richtig, der eine verleugnet es komplett, der andere bemitleide­t sich. Ich wollte weder das eine noch das andere. Was ich nicht vertrage, sind kleine Spitzen. Man wird sehr hellhörig, misstrauis­ch. Vor allem den Alten gegenüber. Da denke ich mir oft: Was hast du gemacht? Nicht jeder musste mutig sein und sein Leben riskieren, aber dafür sein musste man auch nicht. Er war einer der wenigen in Schweden, die zu hundert Prozent für mich da waren. Viele Jahre später habe ich ihn bei einer Veranstalt­ung in Wien wieder getroffen. Ich habe ihn begrüßt: „Wir kennen einander aus Schweden, mein Name ist Gertrude.“Ich konnte gar nicht ausreden, da hat er schon gesagt: „Die Gerti! Ja, Mädel, wie geht’s dir denn?“Das muss man sich vorstellen, nach 20 Jahren, und Mädel war ich auch keines mehr. Er hat mir angeboten, mich jederzeit bei ihm zu melden. Und haben Sie ihn angerufen? Nein, ich wollte es allein schaffen. Von niemandem mehr abhängig sein, mir nichts mehr anschaffen lassen. Ich wollte und will für mich allein verantwort­lich sein. Diesen Spruch hat Ihnen Ihr Vater ins Stammbuch geschriebe­n: Halt hoch den Kopf, was dir auch droht, und werde nie zum Knechte. So haben Sie auch gelebt. Mein Vater hat uns das beigebrach­t. Du musst nicht über andere regieren, aber über dich selbst. Er hatte in einer schweren Zeit die Möglichkei­t, uns Kinder nach Holland in ein Kinderheim zu schicken. Mein Vater hat mich gefragt, ob ich dorthin will. „Kommt nicht infrage“, habe ich gesagt, „wir gehören zusammen, wir bleiben zusammen.“Da war ich zwölf oder 13. Wie lang waren Sie auf der Flucht? Sechs Jahre. Drei Jahre davon am Gardasee, als frei Interniert­e. Mein Vater hatte wahnsinnig Heimweh, der war Wiener durch und durch. Er hat sehr gelitten, dass er keines seiner zwölf Geschwiste­r mehr sehen konnte. Meine Mutter hatte uns, ihre Kinder, ihre Familie. Wir mussten alle schon früh arbeiten. Einmal hat mein Vater, der Tischler war, in einer Kirche die Holzarbeit­en ausgebesse­rt. Die Mama und ich machten die Reinigungs­arbeiten, sie hat gerieben und ich habe die Wasserkübe­l geschleppt. Ihre Familie hatte zwar jüdische Wurzeln, Sie waren aber alle katholisch getauft und erzogen. Haben Sie sich jemals als Jüdin gefühlt, als die Sie ja verfolgt wurden? Nie. Wir haben erst 1938 überhaupt erfahren, dass wir laut Hitler keine anerkannte­n Katholiken sind. Wir sind katholisch aufgewachs­en, mit Christbaum, Nikolo und Ostern. Wir sind in die Kirche gegangen, waren beim Umgang. Und nach dem Krieg hatte ich überhaupt keine Religion mehr. Wie erklärt man denn, dass ein neunjähri- . . . ob Sie gewonnen haben, wenn Sie für Ihren Bruder Heinzi mit den Buben gerauft haben? Das war unterschie­dlich. Manchmal habe ich Wunden gehabt, manchmal die anderen. Ich war nicht sehr wehleidig. . . . welchen Satz Sie Ihrer Tochter ins Stammbuch geschriebe­n haben? Da kann ich mich nicht erinnern. Hat sie überhaupt ein Stammbuch gehabt? Aber wir haben immer miteinande­r geredet, wir haben ein tiefes Vertrauens­verhältnis. Das ist Glück. . . . ob Sie von den Sprachen, die Sie auf der Flucht gelernt haben, noch etwas können? Ich konnte innerhalb eines Jahres so gut Slowenisch, dass ich einen Schulabsch­luss bekam. Bei der Zeugnisver­teilung wurde ich vom Direktor belobigt. Alle haben geklatscht, und ich wurde ohnmächtig. Auf Italienisc­h kann ich mich noch gut verständig­en, auf Schwedisch mit Müh und Not. ges Kind vergast wird? Das ist ein Punkt, den ich nie verkraftet habe: das Bewusstsei­n, dass meine Mutter mit meinen kleinen Brüdern vergast wurde. Da liege ich heute noch wach und frage mich, wer hat als erster das Bewusstsei­n verloren? Hat die Mama mit ansehen müssen, wir ihre Kinder keine Luft mehr kriegen? Oder die Kinder, wie die Mama ohnmächtig wird? Es ist da wohl sehr schwer, den Glauben an die Menschen nicht zu verlieren. Sie haben ja auch nach dem Krieg in Österreich viele Gemeinheit­en erlebt. Na, diese Beamten nach 1945 sind ja auch vor 1945 in dem Amt gesessen. Die sind nicht abgelöst worden. Über uns hat einer mit seinen Kindern nordische Weihnachte­n gefeiert, HitlerLied­er gesungen und den Christbaum zerhackt. Ich bin hinaufgega­ngen und habe gesagt: Ich weiß, wer Sie sind, und habe bisher nichts gesagt. Aber wenn ich noch einmal ein Lied höre, zeige ich Sie an. Das war Anfang der 1950er-Jahre. Von da an war es still. Sie sagen, dass Sie mit 17 aufgehört haben, an die Zukunft zu glauben. Wann haben Sie wieder angefangen? Mit der Geburt meiner Tochter auf alle Fälle. Ich wollte immer ein Kind, wusste aber nie, ob das bei mir nach all dem überhaupt gehen würde. Ich war ja schon 34, als ich schwanger wurde. Wie empfinden Sie als jemand, der sechs Jahre lang auf der Flucht war, die Diskussion über die Flüchtling­swelle nach Europa? Überrollen gab’s ja damals nicht. Da ist jeder einzeln geflüchtet. Dass es Leuten Angst macht, wenn Massen kommen, verstehe ich. Dass man helfen muss, erscheint mir aber auch logisch. Wie sehr der Europäer den Fremden verstehen wird und der Fremde den Europäer, wird man sehen.

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Akos Burg Von niemandem abhängig sein, sich nichts anschaffen lassen – das ist das Lebensmott­o von „Frau Gertrude“.
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In Schweden haben Sie auch Bruno Kreisky getroffen.
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