»Das Volk ist nicht so begeistert von Putin«
Lew Gudkow, Chef des unabhängigen Moskauer Umfrageinstituts Lewada-Zentrum, über das Veröffentlichungsverbot während der Wahlkampagne, die politische Alternativlosigkeit und die innere Instabilität der Putin-Regierung.
Vor Kurzem erklärten Sie, dass das LewadaZentrum keine aktuellen Umfragen zur Wahl veröffentlichen kann. Warum? Lew Gudkow: Nach der zwangsweisen Eintragung in das Register der „Ausländische Agenten“hat uns das Justizministerium gewarnt, dass eine Veröffentlichung von Daten vor der Wahl Folgen haben würde. Verletzen wir das Gesetz, drohen Strafen und die Organisation kann aufgelöst werden. Für uns bedeutet das ein Publikationsverbot. Doch wir führen wie früher unsere Umfragen durch. Werden Sie die gesammelten Daten doch noch veröffentlichen? Nach den Wahlen Form. in analytischer Bei der Präsidentenwahl am 18. März wird es also keine unabhängigen Umfragen geben. Was bedeutet das bezüglich der Manipulation der öffentlichen Meinung? Die ist wahrscheinlich und wohl unabwendbar. Es ist nur die Kreml-Soziologie übrig. Und die wird höhere Ziffern bekannt geben, wonach sich wiederum die Praxis in den Wahlkommissionen orientieren wird. Wie blicken Sie als Soziologe auf die Wahl? Das ist keine Wahl. Man darf sich nicht der Illusion hingeben, dass das eine transparente, ehrliche und demokratische Wahl sei. Es ist ein Mechanismus zur Herstellung von Konsens. Ein Zwangsplebiszit. Wie der Duma-Vorsitzende Wjatscheslaw Wolodin sagte: Putin ist Russland. Ohne Putin gibt es kein Russland. Das Bewusstsein der Alternativlosigkeit ist sehr wichtig. Nachdem im Herbst wenige zur Wahl gehen wollten, soll die künftige Wahlbeteiligung jetzt höher liegen. Hat das nicht auch mit dem Auftauchen neuer Kandidaten zu tun? Nein. Putins Mobilisierungsmaschine hebt die Prozente. Es gibt nur zwei neue Kandidaten, Xenia Sobtschak und Pawel Grudinin. Für Grudinin, den Kandidaten der Kommunisten, wollen vier bis fünf Prozent aller Wahlberechtigten stimmen, von jenen, die zur Wahl gehen wollen, sechs bis sieben Prozent. Sobtschak hat wenig Chancen, eineinhalb bis zwei Prozent. Ihr Anteil wächst nicht. Sie hätte Chan- cen gehabt, Alexej Nawalnys Elektorat zu übernehmen, aber nach Nawalnys Boykottaufruf hatte sich das erledigt. Derzeit gibt es mehrere Negativkampagnen, besonders auffällig ist die negative Berichterstattung im Fall Grudinin. Warum? Der Kreml will den Eindruck erwecken, dass es keine soliden Politiker gibt – außer natürlich den Vater der Nation, den nationalen Leader. Die Funktion der anderen ist, mit ihrer Unseriosität das Gefühl der Alternativlosigkeit zu verstärken. Die Alternativlosigkeit ist das wichtigste Motiv für die Wahl Putins. Man sollte nicht glauben, dass das Volk so von Putin begeistert ist! Bis zu den ukrainischen Maidan-Protesten ist seine Popularität gefallen, im Dezember 2013 lag sie auf dem Tiefpunkt. Aber die Annexion der Krim, die chauvinistische Welle und Konfrontation mit dem Westen haben die Unterstützung für Putin gehoben. Wie ist das Gefühl der Alternativlosigkeit zu verstehen? Alternativlosigkeit ist einerseits ein nüchternes Realitätsverständnis – über die politische Zensur, die Abweisung realer Kandidaten, Wahlen als Zeremonie der Akklamation mit sehr vorhersehbarem Ergebnis. Andererseits kann sie die Form von Hoffnung annehmen: „Vielleicht gelingt Putin ja doch wieder ein Wachstum der Einkünfte, so wie in den Nullerjahren.“Alternativlosigkeit gepaart mit Hoffnung bestimmt den Charakter von Putins Unterstützung. Jede Amtszeit hat ein Thema. Zuletzt war es die nationale Größe. Was folgt darauf? Der Kreml hat keine Ideen. Alle ideologischen Ressourcen sind ausgeschöpft. Wenn man an etwas appellieren wird, dann an sowjetische Stereotype über die große Vergangenheit, den Großmachtstatus, die Gegnerschaft zum feindlichen Westen, Sicherheit, den imperialen Komplex. Hinzu kommt soziale Demagogie, das Versprechen erhöhter Sozialausgaben. Doch real sinken die Einkommen der Bevölkerung schon seit einigen Jahren bis zu 15 Prozent. Das ist schmerzlich, aber nicht gefährlich für das Regime. Es ist ein langsamer Prozess, daher können sich die Menschen anpassen. Sie haben Schlimmeres erwartet. Unseren Umfragen zufolge wissen nur 15 bis 17 Prozent, wohin sich das Land bewegt, die Mehrheit hat keine Vorstellung davon. Die Leute leben im Jetzt. Das Wichtigste für sie ist, dass es nicht schlechter wird. Wird die nächste Putins letzte Amtszeit? Niemand weiß das. Wenn man von der Entstehungslogik des Regimes ausgeht, dann wird es jedenfalls härter und repressiver. Putin entscheidet nicht alles selbst, er ist auch eine Geisel dieses gewachsenen Systems. Er kann nicht einfach so abtreten. Denn er weiß, sobald das Regime Schwäche zeigt, wird es vermutlich zusammenbrechen. Also keinen Putinismus ohne Putin? Russland bleibt in jedem Fall bestehen (lacht). Das Regime bricht zusammen, oder geht in eine andere Form über. Ich sage nicht, dass danach eine demokratische Ordnung entsteht. In seinem Inneren ist es jedenfalls nicht sehr stabil. Aber Sie kennen ja den Spruch: Alles ändert sich und bleibt doch gleich. Wie erklären Sie die innere Instabilität? Es gibt natürlich Interessenskonflikte in Putins Umgebung. Putin führt prophylaktische Repressionen gegen die höhere Führung durch. Nach den Daten von Nikolaj Petrow (Professor an der angesehenen Höheren Wirtschaftsschule Moskau, Anm.) werden jedes Jahr zwei Prozent der Elite verhaftet: Gouverneure, Vizeminister, Abteilungsleiter etc. Das hat systematischen Charakter, soll Abweichler warnen und konsolidierend wirken. Denn real bedrohlich für das Regime ist ein offener Konflikt an der Spitze. Es besteht die Gefahr, wie damals in der Perestroika, dass sich ein Teil der Elite an die Massen wendet zur Unterstützung. Diese Situation ist sehr gefährlich für ein Regime, das keinen inneren Mechanismus der Machtübergabe hat. Putins neue Kader sind jung, loyal und haben keine eigene Machtbasis. Natürlich. Das ist für alle diktatorischen Regime typisch, das Ausbooten der alten Garde und das Stützen auf junge Kandidaten, die dem Diktator persönlich verpflichtet sind.
Lew Gudkow
wurde 1946 in Moskau geboren. Er hat Soziologie, Journalismus und Philologie studiert. 1991 wurde er Leiter der sozialpolitischen Forschungsabteilung im staatlichen Umfrageinstitut Wziom, das es bis heute gibt. 2003 verließ er das Institut gemeinsam mit dem Soziologen Jurij Lewada, der ein unabhängiges Institut, das Lewada-Zentrum, gründete. Nach Lewadas Tod 2006 wurde Gudkow Direktor der Einrichtung. Im September 2016 wurde das Zentrum als „ausländischer Agent“eingestuft; laut dem Gesetz darf es zur aktuellen Wahlkampagne keine Daten publizieren. Im November 2017 wurde Gudkow mit dem Lew-KopelewPreis ausgezeichnet.
In deutscher Sprache
sind von ihm folgende Bücher erhältlich: „Wahres Denken: Analysen, Diagnosen, Interventionen“, Edition Osteuropa. „Russland. Kein Weg aus dem postkommunistischen Übergang“, Verlag Wagenbach (gemeinsam mit Victor Zaslavsky). Sie nennen Russland eine Diktatur? Zweifellos. Es gibt eine durch die Gesellschaft nicht kontrollierbare Macht, eine vollkommen abhängige Gerichtsbarkeit, Wahlprozeduren, bei denen es um die Reproduktion der administrativen Strukturen geht, die lokale Selbstverwaltung ist machtlos, die Massenmedien werden vollständig kontrolliert und die Bildungssphäre ist ideologisiert. Geopolitische Ziele stehen über der Wirtschaft. Das einzige Merkmal, das sich vom Sowjetsystem unterscheidet, ist die Ideologie. Heute gibt es die Ideologie des Staatspatriotismus. Und es fehlen die Repressionen. Aber das Propagandasystem ist ausreichend prophylaktisch. Ja, man kann von einer Form totalitärer Praktiken sprechen. Im Westen fragt man sich stets: Wer wählt Putin? Man muss sagen, dass es zwischen den sozialen Gruppen keine großen Unterscheide gibt. Es ist der Großteil des Landes. Etwas höher sind Menschen im öffentlichen Dienst – Lehrer, Beamte, Ärzte, Polizisten – und Arbeiter im Staatssektor vertreten, dort, wo der administrative Zwang und die Propaganda stärker arbeitet. Die Kontrolle des Staates über die Wirtschaft ist in den letzten Jahren stark gewachsen. Daher ist der Druck stark gestiegen. Gegen Putin sind vor allem jene, die in die Marktwirtschaft eingebunden sind. Diese Menschen sehen die Ausdehnung der staatlichen Kontrolle mit Sorge. Es gibt zwei Auswege: Emigrieren oder von Zeit zu Zeit ausreisen. Die anderen gehen einfach nicht wählen. Wir sprachen schon mehrmals über Medien. Insbesondere das Fernsehen dient der Machtsicherung. Glauben die Menschen der Propaganda nun oder nicht? Es kommt darauf an, worüber die Propaganda spricht. Dass sich die Wirtschaft gut entwickelt, glauben die Zuseher nicht. Dass es nicht stimmt, sehen sie in der eigenen Tasche. Aber was können sie sagen, wenn es um angebliche Pläne des Pentagons geht? Besonders wichtig in der Propaganda ist, dass sie einen Zustand der Orientierungslosigkeit herstellt und die Realität relativiert. So gesehen ist alles möglich.