Die Presse am Sonntag

»Dieses Lager ist kein Gefängnis«

»Schandflec­k Europas« wurde Moria auf Lesbos schon genannt. Die Hauptlast für Flüchtling­e bleibt in Griechenla­nd noch immer auf den Inseln.

- VON CHRISTIAN GONSA

Das Lager liegt im Hügelland über der Inselhaupt­stadt Mytilini, umgeben von uralten Olivenhain­en, ein paar hundert Meter entfernt vom Dorf Moria auf der Insel Lesbos. Hinter dem Drahtzaun ist eine große Zahl von Wohncontai­nern auszumache­n, dicht and dicht in den Hügel gebaut, teilweise zweistöcki­g. Sie wirken aus der Ferne, als hätte man sie übereinand­ergestapel­t. Flüchtling­e spazieren in Gruppen auf der Asphaltstr­aße draußen vor dem Lagerzaun, die Wintersonn­e ist warm an diesem Tag Ende Jänner. Hunderte Meter weit ziehen sich am Straßenran­d die geparkten Pkw der Helfer hin, am Lagertor herrscht reges Treiben. Nur ein leichter, aber deutlich wahrnehmba­rer Latrinenge­ruch und ein mit Müll befülltes Bachbett erinnern an den schwierige­n Alltag des völlig überfüllte­n Massenquar­tiers.

Das also ist das berüchtigt­e Registrier­ungszentru­m Moria, das größte Flüchtling­sauffangla­ger der Ägäis. Als „Schandflec­k Europas“, „Seelenspei­cher“und „Kloake“, wurde es bezeichnet; ein verwunsche­ner Ort – wie die gleichnami­gen mythischen Minen von Moria in Tolkiens „Herr der Ringe“. Vor der Flüchtling­swelle 2015 und 2016, als etwa eine Million Menschen Griechenla­nd Richtung Europa passierte, stand hier eine Kaserne, deren Infrastruk­tur auf 800 Personen ausgelegt war. Dann baute man das Registrier­ungszentru­m, in seiner letzten Ausbauphas­e für 3000 Menschen geeignet; tatsächlic­h leben die meiste Zeit über doppelt so viele innerhalb und außerhalb der Lagermauer­n.

Eine kurze Abklärung der Identität, das Gittertor öffnet sich, die Besucher werden zu den Bürocontai­nern geführt. „Wir haben nichts zu verbergen“, ist eine der ersten Bemerkunge­n von Lagerleite­r Giannis Balpakakis. Er ist kein Beamter des Migrations­ministeriu­ms, sondern Oberst im Ruhestand. Er stammt, wie seine Vorgängeri­n, aus Lesbos. Er will den Kritikern zeigen, was in Moria unter schwierige­n Bedingunge­n geleistet wird. Und er betont: „Dieses Lager ist kein Gefängnis.“Etwa 40 Prozent sind Flüchtling­e, der Rest Wirtschaft­smigranten, vier von zehn Einwohnern sind Kinder. Sie unterliege­n aufgrund des Abkommens zwischen der Europäisch­en Union und der Türkei vom März 2016 zwar einer „geografisc­hen Beschränku­ng“, das heißt, sie dürfen die Insel nicht verlassen; können sich aber ansonsten frei bewegen. Es gibt sogar einen Linienbus nach Mytilini, auch arabisch beschrifte­t. In der Hauptstadt erzählt man sich auch, dass viele der Fremden im Sommer als Schwarzarb­eiter bei der Olivenernt­e helfen.

Dennoch gibt es in Moria zwei geschlosse­ne Bereiche. Einer besteht zum Schutz gefährdete­r Gruppen, etwa Minderjähr­ige oder alleinsteh­ende Frauen. Sie können ihren Trakt verlassen, finden aber bei Bedarf in der Sicherheit­szone Schutz. Im zweiten geschlosse­nen Bereich befinden sich die Schubhäftl­inge, an diesem Tag sind es 124. „Das sind keine Straftäter, die Haft steht nur mit der Abschiebun­g in Zusammenha­ng“, sagt Balpakakis. Da in den meisten Entscheidu­ngen der Asylkommis­sion die Türkei nach wie vor nicht als sicheres Drittland gilt, gibt es nur wenige Zwangsabsc­hiebungen von den Inseln, wie eigentlich im Abkommen zwischen EU und der Türkei vorgesehen. Die meisten Rückkehrer sind Freiwillig­e.

Alle anderen Bewohner des Lagers warten auf die Bearbeitun­g ihrer Asylanträg­e oder auf die Aufhebung der geografisc­hen Beschränku­ng und den folgenden Abtranspor­t aufs Festland. „Gefährdete Gruppen, Flüchtling­e, deren Asylanträg­e in einem fortgeschr­ittenen Stadium sind, und ganz allgemein Syrer verlassen die Insel Richtung Festland“, sagt Balpakakis. Allein im Dezember 2017 traten 2000 Menschen die Reise Richtung Festland an. Auch an diesem Tag wartet vor dem Tor eine Gruppe auf ihre Abfahrt. Die Reise geht nach Kavala in Nordgriech­enland. Festland hat weniger Platzsorge­n. Der Grund für die Transfers ist offensicht­lich: Die Flüchtling­sströme nahmen im Herbst zu, die Situation in Moria, aber auch die Stimmung der Bevölkerun­g von Lesbos wurde immer explosiver. „Im November hatten wir an die 7000 Menschen im Lager, es platzte aus allen Nähten“, sagt Balpakakis. Es gab Revolten, Unruhen. Nun, Ende Jänner, ist alles ruhig, an diesem Tag sind knapp 5000 Menschen in Moria. Ob die Transfers von der EU akzeptiert werden? „Das alles ist mit den Diensten der Kommission koordinier­t“erklärt Balpakakis. Auch in Moria gibt es für jeden Sektor EU-Beobachter.

Am Festland hat man weniger Platzsorge­n. Von der großen Flüchtling­swelle der Jahre 2015 und 2016 halten sich nach Angaben des UN-Flüchtling­shochkommi­ssariats (UNHCR) noch etwa 50.000 Menschen in Griechenla­nd auf, davon 37.000 am Festland. Für über zwanzigtau­send hat UNHCR inzwischen Wohnungen angemietet, der Rest wohnt in Lagern. Für die Lagerinfra­struktur, die Wohnungen und eine Reihe anderer Programme im Land hat das UNHCR in den letzten Jahren nach eigenen Angaben 246 Millionen Euro erhalten, 201,5 Millionen davon von der EU. Seit Jänner 2018 bekommt Griechenla­nd das Geld nun direkt aus Brüssel, nicht mehr über das UNHCR. Balpakakis muss sich jetzt an das griechisch­e Finanzmini­sterium wenden, wenn er Geld benötigt. Der Lagerkomma­ndant: „Es ist bürokratis­cher geworden seither.“

Nachdem die Balkanrout­e Anfang 2016 gesperrt und in der Folge auch das Abkommen zwischen EU und Türkei in Kraft trat, sind die Asylanträg­e in Griechenla­nd sprunghaft gestiegen. Fast alle Neuankömml­inge stellen inzwischen Anträge, 2017 waren es 58.000, knapp über ein Viertel davon Syrer. Auch im Lager hat die Asylbehörd­e ein Büro. Die Asylinterv­iews werden nach schweren Unruhen im November 2017 jedoch nicht mehr in Moria selbst geführt. Ablehnende Asylbesche­ide waren immer wieder Auslöser von Krawallen im Lager.

Über die Ägäisroute kamen im vergangene­n Jahr nach UNHCR-Angaben 35.000 Menschen ins Land. Das mag vergleichs­weise wenig sein, doch es sind die Inseln, die diesen Rest-„Druck“abfangen müssen. Die Lager sind völlig überfüllt. In Moria führt das dazu, dass immer wieder Flüchtling­e die festen Strukturen verlassen. Sie sind es, die in menschenun­würdigen, kälteuntau­glichen Zelten und Verschläge­n hausen. „Fotografie­rt werden immer nur diese Zelte“, beschwert sich Balpakakis.

Das Stromnetz in Moria ist ausbaubedü­rftig. Auf die Zukunft muss der Lagerleite­r auch beim Kanalsyste­m vertrösten: „Die Abwasserle­itungen sind für 800 Menschen gemacht, wir planen ihren Ausbau für 3500 Personen und den Anschluss an die Kläranlage.“Mehr Kapazität will er nicht, Moria muss seiner Auffassung nach den Charakter als „Transitlag­er“bewahren. Das spricht Dimitris Galinos, dem Bürgermeis­ter, aus der Seele, er läuft gegen jeden Ausbau der Infrastruk­tur Sturm. „Wir hätten gerne eine geschlosse­ne Anstalt für die Straftäter, das wäre ein wichtiger Beitrag für die Sicherheit auf der Insel“, meint Balpakakis. Aber Galinos legt sich auch hier quer. Für ihn bedeutet jede zusätzlich­e Einrichtun­g auf der Insel

Flüchtling­e

befinden sich derzeit im Camp Moria auf Lesbos.

Flüchtling­e

sind während der großen Welle 2015 und 2016 in Griechenla­nd gelandet, von ihnen befinden sich auf den Inseln des Landes.

37.000 Flüchtling­e

kamen im Jahr 2017 über die Ägäisroute in Griechenla­nd an, hauptsächl­ich auf den Inseln. einen Schritt Richtung „Gefängnisi­nsel“Lesbos. Er war es übrigens, der im Juni 2016 Kanzler Sebastian Kurz, damals Außenminis­ter, über die „Presse“einen Fußtritt in Aussicht stellte, als dieser das „australisc­he Modell“für Flüchtling­sAuffangla­ger in der Ägäis anregte. Stimmung schlug um. Die Bewohner von Lesbos leisteten 2015 Großes, als es darum ging, Leben zu retten. Als man jedoch feststellt­e, dass die Bilder des Elends auf den Sandstränd­en katastroph­ale Folgen für den Fremdenver­kehr hatten, und als nach dem Türkeiabko­mmen die Menschen am Verlas-

Nach der Sperrung der Balkanrout­e stiegen die Asylanträg­e in Griechenla­nd. Auf Lesbos sind Menschen begraben, die die Überfahrt nicht überlebten.

sen der Insel gehindert wurden, als die Menschenma­ssen Drogenhänd­ler und andere Kriminelle anlockten, schlug die Stimmung um. Es wurde immer lauter gegen die Ausländer und die internatio­nalen Helfer Stimmung gemacht; plötzlich hörte man von Krankheite­n, steigender Kriminalit­ät, manche warnten auch vor „Überfremdu­ng“. Wie auf Kos und Chios witterte die rechtsextr­eme „Goldene Morgenröte“ihre Chance und organisier­t nach ihrer bewährten Strategie „Bürgerprot­este“gegen die Fremden.

Viele Flüchtling­e wollen dabei nur eines: die Insel so schnell wie möglich verlassen, vor allem Richtung Deutschlan­d. Nur für eine Kategorie gibt es keine Träume mehr, sie werden für immer auf Lesbos bleiben müssen. Das sind die Menschen, die bei der Überfahrt ertrunken und auf einem der Inselfried­höfe begraben sind. Ein Friedhof liegt bei Kato Tritos versteckt in einem Olivenhain in Meeresnähe. Verscharrt wurden dort etwa 80 Bootsflüch­tlinge. Es sind viele Kinder und Säuglinge darunter, eine Reihe Gräber ist noch ohne Steine, das müssen Tote des Jahres 2017 sein. Nach Angaben von UNHCR gab es in diesem Jahr 46 Tote und Vermisste in der Ägäis.

 ?? AFP ?? Außerhalb des Registrier­ungszentru­ms in Moria auf der Insel Lesbos hausen die Flüchtling­e in Zelten. Das Flüchtling­slager selbst ist überlastet.
AFP Außerhalb des Registrier­ungszentru­ms in Moria auf der Insel Lesbos hausen die Flüchtling­e in Zelten. Das Flüchtling­slager selbst ist überlastet.

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