Der Mensch als Maß aller Dinge
Er ist ein großer Kämpfer für das Kleine. Der Salzburger Philosoph Leopold Kohr gilt als Schöpfer der »Small is beautiful«-Idee. Als glühender Gegner des globalen Größenwahns in Politik und Wirtschaft wird er mit dem Alternativen Nobelpreis ausgezeichnet.
Welch ein Leben: Der im Salzburger Oberndorf geborene Leopold Kohr unternimmt bereits als Student während der 1920er-Jahre Reisen durch ganz Europa, er teilt als Zeitungsreporter im Spanischen Bürgerkrieg den Schreibtisch mit Ernest Hemingway, schließt Freundschaft mit George Orwell und führt heftige Diskussionen mit Andre´ Malraux.
Vehement und verbissen versucht Kohr, vor allem auch die Welt im Kampf gegen den Faschismus wachzurütteln. Gemeinsam mit Otto von Habsburg gründet er im Frühjahr 1938 in Paris eine Widerstandsgruppe. Bei seiner Rückkehr nach Salzburg entgeht er nur knapp dem Zugriff der Nazis. Er wird in die Emigration gezwungen und verlässt im Herbst dieses Jahres seine Heimat, schafft es im letzten Moment in Le Havre auf ein Schiff und landet Michael Horowitz am 31. Oktober in New York. Beim früheren Oberndorfer Bäcker Lämmermeyer kann er wohnen, bis er nach Toronto weiterzieht.
Ab 1939 schuftet Leopold in einem Goldbergwerk Kanadas am Rande der Arktis. Durch die unmenschlichen Arbeitsbedingungen erleidet er einen Hörsturz, wodurch sich sein Hörsinn sukzessive verschlechtert. Im Kampf gegen die Nationalsozialisten wird er in Kanada zu einem der wichtigsten Repräsentanten der Österreich-frei-Bewegung und setzt sein Engagement als Publizist in Washington fort. Der in der Nähe von Braunau geborene Diplomat Egon Ranshofen-Wertheimer, zu dieser Zeit Berater im Weißen Haus, wird Leopold Kohrs Mentor: Er bringt ihn mit medialen Meinungsmachern und den wichtigsten Chefredakteuren der USA zusammen.
1941 erscheint im katholischen USMagazin „The Commonweal“Kohrs erster flammender Appell für die Zerschlagung der Großmächte. Ein Jahr später startet er in der „Washington Post“eine Serie im publizistischen Kampf gegen Hitler. Gemeinsam mit seinen Verbündeten Habsburg und Ranshofen-Wertheimer beeinflusst er die Politik der USA, um nach Kriegsende Österreichs Unabhängigkeit wiederzuerlangen.
Bereits am 16. März 1938 ruft Otto von Habsburg in der Zeitschrift „Petite Parisienne“die freie Welt auf, militärisch gegen Nazi-Deutschland vorzugehen. Einige Tage zuvor wird Kohr während eines Treffens von Auslandsösterreichern dem Sohn des letzten Kaisers vorgestellt: „Majestät, ich muss Sie warnen“, meint Kohr mit einem Sektglas in der Hand, „ich kann nämlich mit der Monarchie nichts anfangen, weil ich ein Sozialist bin.“Das störe gar nicht, habe Otto gesagt, er sei auch irgendwie ein Sozialist und habe ihm dann herzlich die Hand geschüttelt . . .
An diesem Abend wird in Paris die Widerstandsgruppe rund um Otto von Habsburg gegründet. Ein paar Tage später fährt Kohr mit Freunden zum Völkerbund nach Genf, zur ersten Sitzung nach dem Untergang Österreichs: Man will erreichen, dass deutsche und österreichische Flüchtlinge getrennt behandelt werden – sonst wäre der Anschluss gewissermaßen international anerkannt gewesen, „. . . wir Österreicher waren eine ganze Woche dort, das Resultat war null“, erzählt Leopold Kohr Jahrzehnte später dem Autor Gerald Lehner für sein Buch „Das menschliche Maß, eine Utopie?“
„Der Kohr ist ein Spinner“, hört der Sohn eines jüdischen Gemeindearztes in Oberndorf immer wieder. Ein Leben lang. Auch noch 1983, als er den Alternativen Nobelpreis erhält: Der Preisstifter, Jakob von Uexküll, erst Philatelist, dann Philanthrop – dem der Verkauf seiner Briefmarkensammlung eine Million Dollar beschert – begründet in seiner Laudatio Kohrs Ideen aus dem Irrweg des globalisierten Größenwahns: „Er hat als Erster gewarnt, dass eine Gesellschaft ohne menschliches Maß unmenschlich ist.“
Leopold Kohrs Ansicht, jede Obrigkeit störe nur die Entfaltung freier Individuen, und vor allem seine Warnung vor zu großen Einheiten, die dem menschlichen Maß widersprächen, sorgen für heftigen Diskussionsstoff. Kohr gilt als Schöpfer des viel zitierten „Small is beautiful“-Gedankens, den sein Schüler Fritz Schumacher 1973 in Buchform herausbringt. „Oberndorf ist überall“. Zeit seines Lebens bezeichnet der Weltbürger, der immer wieder seine Salzburger Heimat, die intakte Dorfgemeinschaft, besucht, die kleine Einheit als ideale Menge: „Was nicht in Oberndorf passiert, das passiert nirgends auf der Welt. Denn Oberndorf ist überall.“Und immer wieder schreibt Kohr während des Zweiten Weltkriegs in amerikanischen Zeitungen – fast kitschig – vom Oberndorfer Weihnachtslied „Stille Nacht“, das vor genau 200 Jahren wäh- Geburt. 5. Oktober in Oberndorf. Kampf. Publizistischer Widerstand gegen Hitler in der „Washington Post“. Hauptwerk. „The Breakdown of Nations“. Alternativer Nobelpreis für sein Lebenswerk. Tod. 26. Februar in Gloucester. rend der weihnachtlichen Mitternachtsmette uraufgeführt wurde. Er will damit ein Zeichen für die Eigenständigkeit der österreichischen Kulturgeschichte setzen.
Kohrs Eintreten für kleine, selbstständige Einheiten bezieht sich auf die These eines Arztes, Alchemisten und Astrologen, auf Paracelsus, und seinen Satz: „Alles ist Gift, ausschlaggebend ist die Dosis.“Bis heute wird dieser auffällige Außenseiter des Mittelalters als Begründer einer neuen Medizin gewürdigt – und von vielen Vertretern der Schulmedizin genauso verehrt wie von Anhängern alternativer Behandlungsmethoden. Leopold Kohr spinnt den Paracelsus-Gedanken weiter: „Da die Einheitsfanatiker kein Ding finden, das sich nicht noch vergrößern ließe, können sie nirgends landen. Außer in der Irrenanstalt der Unendlichkeit.“
Kohr ist der Auffassung, dass jeder, der die „paracelsische Mengengrenze überschreitet, das Gute zum Schlechten, Demokraten zu Tyrannen, Medikamente zum Gift und Wachstum zum Krebs“mache. Das Maß aller Dinge müsse der Mensch, nicht der Staat sein: „Da der Mensch klein ist, müssen auch seine Institutionen – Familie, Betrieb, Wirtshaus, Spital, Dorf, Stadt, Gesangsverein – relativ klein bleiben, wenn sie ihn nicht zerquetschen sollen.“Nur in diesen kleinsten Einheiten könne ein Mensch glücklich sein. Deshalb seien, glaubt man Kohr, jene Regierungen die besten, die sich am wenigsten in die Privatsphäre des Einzelnen einmischen und ihn in Ruhe lassen.
Kohrs Hauptwerk „The Breakdown of Nations“erscheint 1957. Seine Thesen sind vom totalitären Zeitalter, vom mörderischen Größenwahn der Nazis und Stalinisten geprägt. Die deutschsprachige Version lässt Jahrzehnte auf sich warten. Der Nationalökonom, Jurist und Philosoph unterrichtet weltweit an Universitäten. 1967 kann der theoretische Verfechter der Kleinheit seine Thesen praktisch anwenden, das „Projekt seines Lebens“realisieren: Die 6500 Bewohner der winzigen Karibikinsel Anguilla haben ihre Kolonialregierung verjagt und bitten Kohr um seinen Rat. Er hilft ihnen bei der Gründung ihres eigenen Staates. Das Experiment endet, als britische Fallschirmspringer auf der Insel landen . . .
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In der »Washington Post« startet er seinen publizistischen Kampf gegen Hitler. Kohrs Eintreten für kleine, selbstständige Einheiten bezieht sich auf Paracelsus.