»Dafür gab es kein Handbuch«
Protokoll eines Medikamententests, der katastrophal endete.
Den 13. März 2006 hat im Londoner Northwick-Park-Krankenhaus bis heute niemand vergessen. Vor allem haben ihn die acht Männer, die sich an diesem Tag frühmorgens dort einfanden, um sich einem Medikamententest zu unterziehen, noch in Erinnerung.
2000 Pfund war ihnen dafür zugesagt worden. Konkret sollte an ihnen erstmals der Wirkstoff TGN1412 ausprobiert werden. Ein Mittel, von dem Wissenschafter damals annahmen, es könnte für die Behandlung von Leukämie eingesetzt werden. Bei ersten Tests an Affen hatten die Forscher nämlich hoffnungsvolle Ergebnisse erzielt. Geplant und durchgeführt wurden die Tests damals von Paraxel, einem internationalen Forschungsinstitut, das auf die Planung und Durchführung medizinischer Studien spezialisiert ist. In diesem Fall sollte zwei der Patienten ein Placebo iniziiert werden, dem Rest der Antikörper TGN1412. Die Auswahl wurde zufällig und doppelblind getroffen. Das heißt, weder das medizinische Personal noch die Probanden wussten, welcher Gruppe sie angehören würden.
Um acht Uhr Früh bekam der erste Teilnehmer eine Dosis, die einem Fünfhundertstel der Menge entsprach, die vorher bei Tierversuchen verabreicht worden war, ohne dass Nebenwirkungen auftraten. Zehn Minuten später wurde der nächste Proband an die Infusion gehängt, zehn Minuten später wieder einer, und so ging es fort. Schon um 8 Uhr 20 traten beim ersten Studienteilnehmer die ersten Symptome, nämlich starke Kopfschmerzen, auf, was er dem Ärzteteam auch gleich mitteilte. Trotzdem bekam um 8 Uhr 40 die fünfte Versuchsperson ihre Dosis. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich der Zustand des ersten Mannes weiterhin deutlich verschlechtert: Er wälzte sich vor Schmerz in seinem Bett, sein ganzer Körper brannte wie Feuer. Der Versuch wurde auch beim Letzten fortgesetzt, obwohl schon bei fünf der anderen die ersten Symptome eingesetzt hatten. Die zwei Glücklichen, die offensichtlich das Placebo verabreicht bekommen hatten, beobachteten die aufziehende Katastrophe fassungslos. Kein Notfallplan vorhanden. Das medizinische Personal von Paraxel war für so eine Situation nicht gewappnet. Als der Zustand der sechs Patienten immer kritischer wurde und einzelne Organe zu versagen begannen, entschieden sie, die Männer auf die Intensivstation des Northwick-ParkKrankenhauses zu transferieren. Doch auch dort waren die Mediziner vorerst ratlos. Sie beschlossen, externe Experten an die Betten der lebens-
Arzneimittel
sind derzeit weltweit in Entwicklung.
Milliarden Euro
kostet die Entwicklung eines Medikaments im Durchschnitt
Millionen Euro
gibt die pharmazeutische Industrie in Österreich pro Jahr für klinische Studien aus. gefährlich Erkrankten zu rufen. Doch wie behandelt man Menschen, die mit einer Substanz vergiftet wurden, zu der es keinerlei Erfahrungswerte gibt? Nach Beratungen verabreichten sie den mittlerweile bereits komatösen Männern hohe Dosen an Steroiden. Es sei eine schwierige, hoch riskante Entscheidung gewesen, sagte Ganesh Suntharalingam, einer der zu Rate gezogenen Ärzte, später. „Es gab kein Handbuch für diese Situation.“
Die Applikation erwies sich als richtig, wenngleich die Männer noch einen langen Leidensweg vor sich hatten. Fünf von ihnen konnten nach einem Monat, der sechste jedoch erst nach 14 Wochen die Klinik verlassen. Ihm waren während dieser Zeit Fußund Fingerspitzen abgefallen. Keiner von ihnen wusste damals oder weiß heute, welche Spätfolgen sie noch zu erwarten haben. Sie klagten Paraxel auf Schadenersatz. Das Unternehmen einigte sich mit den sechs Männern drei Jahre später in einem außergerichtlichen Vergleich. Über die Summe, die sie erhielten, wurde Stillschweigen vereinbart. Bis dato gibt es noch keine weiteren Erkrankungen. Viele offene Fragen. Das Desaster löste in Großbritannien und anderen europäischen Ländern eine heftige Debatte über die Sicherheitsvorkehrungen bei Medikamententests aus. Weshalb wurde den Probanden der Wirkstoff nahezu gleichzeitig verabreicht und die ganze Menge nur binnen weniger Minuten in die Venen geschossen? Und wieso wurde der Versuch nicht sofort abgebrochen, ja sogar noch fortgesetzt, obwohl beim ersten Teilnehmer sehr rasch die ersten Symptome aufgetreten waren? Eine Expertengruppe der Medicines and Healthcare products Regulatory Agency untersuchte die Vorfälle und kam schlussendlich zu dem Ergebnis, dass die Vorfälle unvorhersehbar gewesen und alle Vorschriften bei dem medizinischen Versuch eingehalten worden wären. Dennoch empfahlen sie eine Überarbeitung der regulatorischen Bestimmungen.
Im Juli 2007 verabschiedete der Ausschuss für Humanarzneimittel der Europäischen Arzneimittelagentur neue Leitlinien, um Risken bei der Erstanwendung von Arzneimitteln zu identifizieren und zu minimieren. Diese Regeln sind seit September 2007 bindend. Dennoch kam es erst 2016 wieder bei einer Phase-I-Studie mit dem Wirkstoff BIA 10-2474 zu furchtbaren Zwischenfällen in Frankreich. Wieder wurde die Testsubstanz an sechs Männern getestet. Nach zwei Tagen traten bei fünf Symptome auf. Das Präparat hatte ihr Zentralnervensystem angegriffen. Einer von ihnen starb nur zwei Tage später.