Die Presse am Sonntag

Der Tätowierer von Auschwitz

Er hat Hunderttau­senden Menschen die Häftlingsn­ummer in den Unterarm geritzt: Lale Sokolov Zwangsarbe­iter und Tätowierer im KZ. Er überlebte. Seine Geschichte hat er kurz vor seinem Tod erzählt. war jüdischer Häftling,

- VON DUYGU ÖZKAN

Am Abend begab sich Lale Sokolov zu den Männern in Block 7 und sagte ihnen, was die SS von ihm wollte. „Nein“, antwortete ihm ein Mann, „ich werde es nicht machen. Du kannst mich nicht dazu bringen.“Ein anderer meldete sich freiwillig, er sagte: „Ich habe früher gespielt.“Die Männer in Block 7 blieben gespalten, Sokolov sagte aber, dass dies auch die Möglichkei­t einer klitzeklei­nen Rache sein könne: die SSler treten und dafür vielleicht nicht bestraft werden. Ein Mann fiel ihm ins Wort und berichtete, in Block 15 gebe es sogar einen Profi aus Ungarn. Sokolov konnte schließlic­h neun Männer finden, die bereit waren. Bereit, im KZ Auschwitz-Birkenau Fußball gegen die SS zu spielen.

So standen am darauffolg­enden Sonntag auf der einen Seite wohlgenähr­te und gut ausgestatt­ete Spieler, auf der anderen Seite ausgemerge­lte, gezeichnet­e Häftlinge. Zehn Minuten nach Anpfiff führten die Häftlinge 2:0. Sie durften aber nicht gewinnen, das hatte ihnen Sokolov eingeredet – es war viel zu riskant. Als es in der Halbzeit unentschie­den stand, regnete es Asche auf das provisoris­che Fußballfel­d, der Wind wehte sie von den Krematorie­n her. Asche, der ständige Tod, die Entmenschl­ichung der Häftlinge und die zynischen Spielchen der SS, es gehörte alles zum Alltag in Auschwitz. „Gut gespielt, Tätowierer“, sagte Josef Houstek von der Lager-Gestapo am Ende zu Sokolov, ehe er als Zuschauer das Feld verließ, um den Sieg der SS zu feiern.

Sokolov hat viel gesehen und musste viel über sich ergehen lassen, um das KZ zu überleben. Er war der Tätowierer des Lagers, und als solcher stand er im Schutz der sogenannte­n Politische­n Abteilung. Jahrzehnte­lang hat Sokolov seine Geschichte nicht erzählt, erst wenige Jahre vor seinem Tod im Jahr 2006 fasste er Vertrauen zu der australisc­hen Autorin Heather Morris. Ihre romanhafte Geschichte „The Tattooist of Auschwitz“ist kürzlich im britischen Verlag Bonnier Zaffre erschienen und basiert auf den Erzählunge­n Sokolovs. Geboren 1916 in der heutigen Slowakei als Ludwig (Lale) Eisenberg in eine jüdische Familie, verbrachte Sokolov seine Kindheit im Örtchen Krompachy. Als die Nazis einfielen, meldete er sich freiwillig, „um für

„The Tattooist of Auschwitz“

Das Buch

ist im Jänner im britischen Verlag Bonnier Zaffre erschienen. Die Autorin

hat über einen Zeitraum von drei Jahren den Tätowierer von Auschwitz, Lale Sokolov, besucht und seine Geschichte in Romanform verfasst. Eine deutsche Übersetzun­g ihres Buches liegt noch nicht vor.

Morris Heather Lale Sokolov

wurde 1916 in der Slowakei geboren. Im Alter von 26 Jahren, im April 1942, wurde er nach Auschwitz deportiert. Er starb 2006 in Australien. die Deutschen zu arbeiten“– und um seine restlichen Familienmi­tglieder zu verschonen. Die Nazis machten den „Freiwillig­en“weis, dass sie Arbeiter brauchten, aber in Wahrheit wurden sie in das Konzentrat­ionslager verfrachte­t. Im April 1942 kam Sokolov als junger Mann in Auschwitz an, er bekamt die Häftlingsn­ummer 32407. Als Sokolov den Schriftzug „Arbeit macht frei“an der Tür passierte, gab er sich selbst einen Schwur: Hier lebend wieder herauszuko­mmen. Eine Liebe im KZ. Als Zwangsarbe­iter musste Sokolov die Baracken im Lager mitaufbaue­n, später erkrankte er an Typhus und überlebte nur dank der Hilfe und des lebensgefä­hrlichen Einsatzes seiner Mitgefange­nen. Mehr durch Zufall begegnete Sokolov dem französisc­hen Häftling Pepan, der sich ihm als Tätowierer vorstellte. „Du hast mir das angetan?“, fragte ihn Sokolov. „Ich hatte keine Wahl“, war Pepans Antwort. Pepan nahm sich Sokolovs an und bildete ihn zum „Assistente­n“aus. So wurde aus Lale der Tätowierer des KZ, denn irgendwann war Pepan nicht mehr da. Hunderttau­senden Häftlingen, die die Selektion überlebt hatten, stach Sokolov bis zur Befreiung des Lagers Farbe in die Haut und machte sie zu Nummern – Männer wie Frauen.

Es kam vor, dass Sokolov von seinen Mithäftlin­gen als Kollaborat­eur bezeichnet wurde. Es sind diese Furcht, dieser Vorwurf, die ihn lang schwiegen ließen, wie Heather Morris in Interviews gesagt hat. An seine Frau Gita gerichtet sagte Sokolov einmal: „Ich bekam die Möglichkei­t, Teil dieser Zerstörung an unserem Volk zu sein. Ich habe sie angenommen, um zu überleben. Ich kann nur hoffen, dass ich eines Tages nicht als Täter oder Kollaborat­eur verurteilt werde.“

Lale lernte die Slowakin Gita Fuhrmannov­a´ im KZ kennen, er stach ihr die Häftlingsn­ummer in den Unterarm. Die Liebesgesc­hichte von Gita und Lale, die beide überlebt haben und deren Zuneigung füreinande­r bis zu ihrem Tod angedauert hat, stellt den Mittelpunk­t von Morris’ Erzählung dar. Ihr Buch sei keine chronologi­sche Aufzählung über das KZ in all seiner Barbarei und Unmenschli­chkeit, sondern eine Geschichte über die Menschen, die hier umgekommen sind oder eben überlebt haben, meint Morris. In den Wirren der Befreiung des Konzentrat­ionslagers verloren sich Gita und Lale aus den Augen, fanden einander jedoch in Bratislava wieder. Nach einiger Zeit in der Tschechosl­owakei – hier nahmen die Eisenbergs ihren neuen Nachnamen an – wanderte das Paar nach Australien, nahe Melbourne, aus, ihr Sohn, Gary, kam dort 1961 auf die Welt. Erst nach Gitas Tod 2003 war Lale bereit, seine – ihre gemeinsame – Vergangenh­eit zu teilen. Selbst Gary wusste nicht von der Geschichte seiner Eltern im Detail, wie Morris sagte.

Im KZ, als Tätowierer, bekam Sokolov Extraratio­nen und ein eigenes Zim- mer, das sich im „Zigeunerla­ger“befand. Seine zusätzlich­en Rationen portionier­te Sokolov haargenau in mehrere, kleine Teile und verteilte sie entweder unter den Roma-Familien oder gab sie an die Männer in Block 7 oder an die Frauen im Kanada genannten Lager weiter, wo die Wertgegens­tände der Deportiert­en registrier­t wurden.

Mit zwei Frauen hier ist Lale Sokolov einen Deal eingegange­n, beschreibt Morris: Sie ließen Juwelen und Geld mitgehen, die Sokolov in seinem Zimmer ordnete. „Der Prozess ist surreal“, schreibt Morris, „Diamanten mit Diamanten, Rubinen mit Rubinen, Dollar mit Dollar und sogar ein Stapel Währung, die er noch nie zuvor gesehen hatte, mit der Aufschrift ,Suid-Afrikaans‘. Er weiß nicht, wie viel es wert ist und wie es nach Birkenau gekommen ist.“Die Wertsachen gab Sokolov an die polnischen Arbeiter Victor und Yuri weiter, die tagsüber gegen Bezahlung im KZ arbeiteten. Dafür schmuggelt­e ihm dieses Vater-Sohn-Gespann Nahrungsmi­ttel und bisweilen Medikament­e nach Auschwitz, die Sokolov wiederum im Lager verteilte. So konnte er Penicillin „kaufen“und der zeitweise erkrankten Gita das Leben retten.

Sokolov bekam Extraratio­nen, die er portionier­te und im Lager verteilte.

Was mit den Eltern geschah. Morris beschreibt in ihrem Buch den Zusammenha­lt, die Freundscha­ft, die Liebe, die Verzweiflu­ng, den Schock und die Taubheit zwischen den Menschen, die täglich am Abgrund wanken. „Er hat mir die Eier abgeschnit­ten“, sagte Leon, der Tätowieras­sistent Sokolovs, der eine Zeit lang verschwand und plötzlich wieder auftauchte. Leon war in den Fängen des Lagerarzte­s Josef Mengele, der auch regelmäßig Sokolov traktierte. Gita musste hilflos mitansehen, wie ihre Freundin Cilka immer und immer wieder vom SS-Mann Johann Schwarzhub­er vergewalti­gt wurde. Sokolov verlor mit einem Mal seine Roma-Freunde im Krematoriu­m.

Nach Europa kam Lale Sokolov nie mehr zurück. Was mit seinen Eltern passiert ist, hat der ehemalige Tätowierer von Auschwitz auch nie erfahren: Heather Morris fand es erst heraus, nachdem Sokolov bereits verstorben war: Die Eltern Eisenberg wurden dorthin deportiert, wo auch Lale war, nach Auschwitz-Birkenau, und sie wurden am Tag ihrer Ankunft umgebracht.

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Familie Sokolov Lale Sokolov und Gita lernten sich im KZ kennen – beide überlebten Auschwitz.
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