Die Presse am Sonntag

Notstandsh­ilfe: »Dann heißt es, du willst

182.076 Menschen erhalten jährlich Notstandsh­ilfe, die meisten davon sind Österreich­er, der Großteil der Bezieher lebt in Wien. Jeder dritte ist älter als 50 Jahre. Beim AMS in Favoriten versuchen sie einen Job zu finden. Porträt vierer Menschen über 45,

- VON EVA WINROITHER

Es ist so eine Sache mit der Arbeitslos­igkeit. Jeder kennt die Gebäude mit den blau, rot, weißen Logos des AMS. Jeder hat eine Meinung zur Arbeitsmar­ktpolitik, die dort umgesetzt wird, zu den Menschen, die dort mit schnellen Schritten durch die Eingangstü­re huschen, manche so rasch als wollten sie nicht gesehen werden. Die meisten sind wohl froh, mit dieser Welt nichts zu tun zu haben, weil der Eintritt in sie als Zeichen dafür gesehen werden kann, dass das Leben aus dem Lot geraten ist.

Das AMS in der Laxenburge­r Straße in Favoriten ist die größte AMSZweigst­elle der Stadt. 39.056 Menschen gingen im vergangene­n Jahr als Klienten durch die breiten Glaseingan­gstüren. Eltern mit Kindern an der Hand, Senioren, Frauen mit Kopftuch, junge Burschen, erwachsene Männer in Jogginghos­en. Viele hier sprechen nur schlecht Deutsch. Vor dem großen Infodesk leiten Absperrgit­ter die Schlangen in ihre Bahnen. In Favoriten ist die Zahl der Arbeitslos­en von allen Wiener Bezirken am höchsten.

Dass hier auch viele Menschen Notstandsh­ilfe beziehen, versteht sich von selbst. Seit Anfang des Jahres werden die Pläne der Regierung diskutiert, die Notstandsh­ilfe in die Mindestsic­herung überzuführ­en. 182.027 Menschen (Stand 2016) in Österreich erhalten sie derzeit – jeder Dritte ist älter als 50 Jahre. Die meisten Bezieher sind österreich­ische Staatsbürg­er. Die Zahl der Notstandsh­ilfebezieh­er hat in den vergangene­n Jahren zugenommen. Mittlerwei­le gibt es mehr Menschen, die Notstandsh­ilfe als Arbeitslos­engeld beziehen. Ersteres wird mit einem Maximalbet­rag von 50,13 Euro pro Tag (maximal 1554 Euro im Monat) vom AMS an Langzeitar­beitslose ausbezahlt – wenn nötig ein Leben lang. Die Mindestsi- cherung beträgt 863,04 Euro in Wien – bevor man sie bezieht, greift der Staat auf Vermögen und Eigentum zu.

Friedrich P. ist der Elan noch anzumerken, als er vor der Türe seiner AMS-Betreuerin auf seinen Termin wartet. Der 54-Jährige hat erst seinen zweiten Termin beim AMS, ist voll des Lobes für seine Betreuerin. P. ist nach 19 Jahren in der gleichen Firma arbeitslos. Die Notstandsh­ilfe bezieht er noch nicht, aber auch er weiß, dass ihm das in seinem Alter leicht passieren kann. Der 54-Jährige hat in der Lebensmitt­elbranche in einem Lager gearbeitet. Hat dort 19 Jahre lang schwere Kisten geschleppt, sechs Tage die Woche, weil so viel Arbeit da war.

Seinen letzten richtigen Urlaub habe er vor zehn Jahren gehabt, dann hat er ihn tageweise abgebaut. Der Chef habe immer gesagt, es gebe nicht genug Geld für mehr Personal. „Ich weiß, das glaubt mir niemand. Aber es stimmt“, sagt er. Am Ende konnten Geist und Körper nicht mehr. Nach zwei zuerst unbemerkte­n Leistenbrü­che musste er aufhören. „Der Arzt hat gesagt, wenn ich nicht gegangen wäre, dann wäre ich gestorben.“Nach einem Jahr Krankensta­nd ist er nun beim AMS. In seiner alten Firma habe der Chef für die gleiche Arbeit, die sie vorhin zu zweit erledigt haben, nun acht eingestell­t.

Nach 30 Jahren Arbeit: »Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal hier landen werde.«

Kaputte Körper. Es sind Geschichte­n wie diese, die immer wieder im AMS zu hören sind: Körperlich kaputte Menschen, die, wenn man sie fragt, von ihrem Einsatz und der Loyalität gegenüber dem Ex-Arbeitgebe­r erzählen und die jetzt auf der Suche nach neuen Aufgaben sind. Im Wettlauf gegen die Zeit. Denn je länger jemand arbeitslos ist, desto schwierige­r wird es, wieder einen Job zu finden. Aussichtsl­os ist es aber nicht. Rund 30 Prozent der über 45-Jährigen werden wieder in einen Job vermittelt, heißt es seitens des AMS Wien. P. ist in seinem Rennen noch ganz am Anfang. Als Portier würde er gerne arbeiten. Irgendetwa­s, wo er Menschen helfen könne. Die Diskussion um die Kürzung der Notstandsh­ilfe beunruhigt ihn: „Da kommt eine kleine Katastroph­e auf uns zu.“P. würde um die 1100 Euro Notstandsh­ilfe beziehen, genug zum Leben, sagt er.

Trotzdem muss er schon mit dem höheren Arbeitslos­engeld sein Auto verkaufen und die Garage zurückgebe­n – um sich seinen Alltag leisten zu können. Seine Frau arbeitet, deswegen gibt es noch ein Einkommen, „wenn du alleine bist, hast du kaum eine Chance.“

Eine Chance ergreifen will auch Anton Huber, der seinen richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen will. Der Mann mit Brille und kurzen Haaren hat 30 Jahre lang gearbeitet, bevor er vor drei Jahren zum ersten Mal arbeitslos wurde. Davor arbeitete er im Management in der Verpackung­sindustrie, war 25 Jahre lang in der gleichen Firma, seine Abteilung war personell unterbeset­zt. Ein neues Management machte schließlic­h eine Umstruktur­ierung, danach wurde er gekündigt. Heute ist er 49 Jahre alt. „Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal hier landen werde“, sagt er mit ruhiger Stimme.

Seit zwei Jahren bezieht er Notstandsh­ilfe, mit 1320 Euro einer der höchsten Beträge, die man beziehen kann. Damit könne er gerade seinen Lebensstan­dard aufrechter­halten: „Wohnung, Auto, Dinge, die man sich nach 30 Jahren im Beruf aufgebaut hat“, sagt er. Die Debatte um die Kürzung der Notstandsh­ilfe hätte bei ihm „totale Verunsiche­rung“ausgelöst. „Da geht es um meine Existenz.“Nach drei Jahren Arbeitslos­igkeit sei ein Großteil des Ersparten aufgebrauc­ht. Mit dem Geld der Mindestsic­herung könnte er sich seine Wohnung, für die er 600 Euro Miete zahlt, nicht mehr leisten.

„Es gibt Tage, da denke ich, ich komme hier nie wieder raus.“Dabei werde er wenigstens immer wieder zu Bewerbungs­gesprächen eingeladen. Aber dann hakt es doch immer wieder an den gleichen Dingen: „Entweder sie sagen dir, du bist zu alt, unterquali­fiziert oder überqualif­iziert.“Gerade bei letzterem versuche er die potenziell­en Arbeitgebe­r zu überzeugen: „Ich sage immer: Ich will den Job, ich will, ich will“, aber am Ende bekomme er ihn doch nicht. Er seufzt. Es trifft ihn, wenn Notstandsh­ilfebezieh­er als arbeitsunw­illig abgestempe­lt werden. „Ich habe 30 Jahre lang gearbeitet und dann heißt es, du willst nicht.“Nachsatz: „Es gibt sicher welche, die das System ausnutzen, aber das ist ein Bruchteil.“

Kleben bleibt das schlechte Image aber an allen. So sehr, dass manche sogar ihren Familien verschweig­en, dass sie Notstandsh­ilfe beziehen. Wie Iris Rauter (Name geändert) mit blondierte­m Haar, die beim Gespräch mit Anton Huber laut über die Pläne der neuen Regierung schimpft. Notstand unter 800 Euro. Rauter ist mit einer deformiert­en Niere auf die Welt gekommen, hat mehrere Operatione­n hinter sich, hat keine Schilddrüs­e und auch keine Galle mehr, leidet unter Depression­en und Panikattac­ken. Sie hat eine Konditorle­hre gemacht, arbeitete dann in einer Kaffeeküch­e, bis sie aufgrund ihres schlechten Gesundheit­szustandes aufhören musste. Danach bezog sie Invaliditä­tspension, bis diese für Menschen unter 50 Jahren reformiert wurde. Heute ist sie 47 Jahre alt, sucht einen Job und bezieht Notstandsh­ilfe.

„Als was soll ich arbeiten, für was soll ich mich bewerben?“, fragt sie mit rauer Stimme. Die Meldung, dass die Notstandsh­ilfe in die Mindestsic­herung übergeht, habe bei ihr sofort Panik ausgelöst. „Ich bin so kaputt“, sagt sie. Sie komme ja so schon kaum aus. Rauter bezieht 470 Euro Notstandsh­ilfe. Das ist so wenig, dass sie mit der Mindestsic­herung auf 863 Euro aufstocken kann. Nach den ersten Regierungs­plänen (ein endgültige­s Konzept muss noch ausgearbei­tet werden) wäre sie vermutlich kaum vom neuen System beeinfluss­t.

Warum sie ihren Eltern und Geschwiste­rn nicht erzählt, dass sie Notstandsh­ilfe bezieht? „Was soll das bringen? Sollen die mir was geben? Die halten

»Entweder sie sagen dir, du bist zu alt, unterquali­fiziert oder überqualif­iziert.«

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Stanislav Jenis Im AMS in Wien Favoriten werden jährlich rund 39.000 Menschen betreut.
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