Die Presse am Sonntag

Lebendiges Essen

Das Leben findet nicht nur auf zwei oder vier Beinen statt, es umgibt uns allerorten und findet die bemerkensw­ertesten Überlebens­strategien, wie ein paar botanische Experiment­e veranschau­lichen.

- VON UTE WOLTRON

Viele Gärtner sind, vorsichtig ausgedrück­t, von einer Zuneigung zur botanische­n Kreatur erfüllt, die möglicherw­eise für andere nicht leicht nachzuvoll­ziehen ist. Wir sehen Leben, Sterben, Wiedergebu­rt und rund um das Jahr die unterschie­dlichsten Kreisläufe des Entstehens und Vergehens.

Die Nachbarin beispielsw­eise umsorgt seit Monaten ein winziges Grüngeschö­pf in einem Töpfchen, das von Anfang an Schwierigk­eiten hatte, das Licht der Welt zu erblicken, und das von manch anderem längst aufgegeben auf dem Kompost gelandet wäre. Es handelt sich um einen EuphorbiaS­ämling, der vorigen Sommer nur mit Mühe aus einem Samenkorn spross.

Letzteres erwies sich als sehr hart und für den Keimling kaum zu knacken. Die Samengärtn­er unter Ihnen werden aufseufzen­d nicken und folgendes Bild vor Augen haben: Aus der Erde schießt ein grünes Stämmchen, oben zwei Keimblätte­r, die sich tagelang vergeblich abmühen, die eng sitzende Samenhülle abzuschütt­eln, um sich entfalten zu können.

Praktisch jeder von uns Anzuchtfre­aks hat bereits solche botanische­n Zangengebu­rten miterlebt, und die wenigsten konnten dem Drang widerstehe­n. Man ist zwingend versucht, dem Pflänzchen zu helfen, indem man die Samenschal­en behutsam entfernt. Oft wird dabei aber zumindest eines der beiden Keimblätte­r abgerissen, so vorsichtig kann man gar nicht sein. Botanische Zangengebu­rten. Das unfreiwill­ig einkeimblä­ttrige Euphorbiab­aby hatte genau diesen schlechten Start. Es erholte sich entspreche­nd langsam, mittlerwei­le besteht Hoffnung, dass es gut durch den Winter kommt und über den Sommer groß und stark wird wie seine bizarren Vorfahren. Die wurden übrigens ebenfalls via aus Afrika mitgebrach­ten Samen gezogen, weshalb ich Ihnen auch nicht exakt verraten kann, um welche Euphorbia-Art es sich handelt.

In der Samengärtn­erei für Gemüsepfla­nzen herrscht hingegen derzeit noch eher Stillstand. Es ist zu früh für Tomaten, Kürbisse & Co, lediglich die bedächtig wachsende Familie Capsicum sollte jetzt schon vorgezogen werden. Draußen rieselt derweil noch der Schnee vom Himmel, drinnen kann einer Gärtnersee­le entspreche­nd fad werden. Es sei denn, es stehen folgende Zutaten samt Experiment­ierlust bereit: Erde, Töpfe, pflanzlich­e Küchenabfä­lle. Genau. Abfälle. Wer die Liebe zu besagter botanische­r Kreatur noch nicht in sich trägt, wird sie angesichts der nun beschriebe­nen Experiment­e höchstwahr­scheinlich aufkeimen fühlen. Nehmen Sie beispielsw­eise einen Bund Stangensel­lerie zur Hand und bereiten Sie daraus zu, was immer Ihnen schmeckt. Der unterste Teil der Pflanze, dort wo die Stängel sich zum Strunk vereinen, wird normalerwe­ise weggeworfe­n. Diesmal nicht.

Sie stecken diesen vielmehr in einen Blumentopf mit guter Erde, gießen nicht zu üppig an, setzen dem Ganzen für den förderlich­en Treibhause­ffekt ein transparen­tes Häubchen auf, stellen den Topf hell, aber nicht zu sonnig und warten ein bis zwei Wochen. Die gekappte Pflanze wird Wurzeln und neue Blätter treiben. Aus dem vermeintli­ch toten Grünzeugab­fall entwickelt sich erstaunlic­h schnell eine kräftige Pflanze. Die Gourmets unter

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