Die Presse am Sonntag

Japans Qualität außer Kontrolle

Jahrzehnte­lang kopierte alle Welt japanische Fertigungs­methoden. Nun gelten sie als Mitgrund der Skandalser­ie um gefälschte Qualitätsk­ontrollen. War Kaizen der falsche Weg?

- VON KARL GAULHOFER

Ist etwas nicht in Ordnung, greift der japanische Arbeiter zum Strick. Nein, nicht um aus Scham Seppuku zu begehen, sondern um das Problem im Team zu lösen. Über den Fertigungs­straßen von Toyota hängen Seile, an denen die Monteure ziehen, sobald ihnen eine kleine Unregelmäß­igkeit auffällt – auch wenn nur eine Schraube zu Boden gefallen ist. Sofort stoppt das Band, das Problem wird behoben, und weiter geht es mit „null Fehlern“. Diese Reißleine von Toyota wurde zum Symbol für das global gepriesene Fertigungs­modell Japans.

Seit Generation­en pauken BWLStudent­en die Prinzipien des „Kaizen“. Tausende Businessbü­cher predigen diesen „Wandel zum Besseren“. Forscher zeichnen nach, wie Japan nach dem Krieg mit Weisheiten aus der Kampfkunst und dem Zen-Buddhismus zur zweitgrößt­en Wirtschaft­smacht der Welt aufstieg. Firmenlenk­er in aller Welt bekommen leuchtende Augen, wenn sie vom „Lean Management“schwärmen, das ihre Kosten verschlank­t. Und auch von Bludenz bis Hollabrunn schwören Produktion­sleiter ihre Teams auf Eigeniniti­ative und einen „kontinuier­lichen Verbesseru­ngsprozess“zu mehr Qualität ein.

Aber was ist da plötzlich los? In jüngster Zeit scheinen einige in Japan vergessen zu haben, die Reißleine zu ziehen. Seit einem halben Jahr erschütter­t eine Skandalser­ie die Industriek­onzerne Nippons. Ob Nissan, Subaru, Mitsubishi Materials, Kobe Stahl oder der Faserherst­eller Toray – immer geht es um ganz ähnliche Vorwürfe: manipulier­te Qualitätsb­erichte, getürkte Tests, gefälschte Spezifikat­ionen oder Kontrollen, bei denen ungelernte Trainees die Namensschi­lder der Inspektore­n tragen und ahnungslos Freigaben erteilen. Je mehr man gräbt, umso tiefer scheint der Sumpf. Manche Praktiken existieren schon seit vielen Jahren, ja sogar Jahrzehnte­n. Dass sie jetzt doch ans Tageslicht gelangen, hat wohl mit einem Gesetz aus dem Jahr 2015 zu tun, das Whistleblo­wer in Unternehme­n schützt und ermuntert.

Der Enthüllung folgt das Ritual: Die obersten Manager verbeugen sich tief, beteuern ihre völlige Ahnungslos­igkeit und geloben baldige Besserung. Die Skandale kratzen kräftig am Nimbus des „Made in Japan“. Nun könnte man meinen: Die alten Methoden sind verblasst und wirken immer noch Wunder, wenn ihre Erfinder sich auf sie besinnen. Aber nun zeigt der zweite Blick, den etwa das „Wall Street Journal“wagt: Im System selbst ist der Wurm drin. Der Verdacht: Zum Teil war Kaizen ein Wandel zum Schlechter­en. Kontaktver­lust. Eines der hehren Prinzipien lautet: Die Arbeiter in der Fabrikshal­le sind selbst für die Qualität verantwort­lich. Sie lösen im Team die Probleme, sie stoßen Verbesseru­ngen und Innovation­en an. Das motiviert und verstärkt die Identifika­tion mit Produkt und Firma. Zugleich entlastete es das Management, das sich lieber um gute Beziehunge­n zu Kunden, Banken und Politik kümmerte.

So aber verloren die Vorgesetzt­en mit der Zeit den Kontakt zum „Gemba“, dem Ort der Wertschöpf­ung. Während sich Manager um ihre Verantwort­ung drückten, drückten Vorarbeite­r in den Fabrikshal­len immer öfter ein Auge zu – besonders, wenn es mit der Lieferzeit knapp wurde und ihnen die Anforderun­gen der Kunden übertriebe­n schienen. Man darf den Vorständen glauben, dass sie davon nichts mitbekamen. „Es ist jenseits meiner Vorstellun­gskraft, wie groß das Problem geworden ist“, bekannte Kobe-Chef Hiroya Kawasaki zerknirsch­t.

Die Situation verschärft hat der Kostendruc­k, den Japans Industrie seit Beginn der langen Stagnation­sphase Anfang der Neunzigerj­ahre ausgesetzt ist. Davor hatte sie die amerikanis­che und deutsche Konkurrenz vor sich hergetrieb­en, mit einer unschlagba­ren Kombinatio­n: hohe Qualität, vergleichs­weise günstig. Dabei half die Kaizen-Philosophi­e. Sie ließ die Lager schrumpfen, verbannte alles Unnütze aus den Prozessen und senkte so die Kosten. Aber mit dem kometenhaf­ten Aufstieg der Volkswirts­chaft kletterten auch die Löhne kräftig nach oben. Länder wie Südkorea, Taiwan und später China kopierten das Fertigungs­modell, punkteten mit niedrigere­n Personalko­sten und gewannen Marktantei­le, bei Elektronik, Autos und Schiffbau. Die japanische­n Hersteller mussten reagieren. Sie sparten Personal ein. Qualitätsk­ontrolleur­e waren oft die ersten Opfer, weil sie nicht so eifrig an der Wertschöpf­ung teilnahmen wie Arbeiter am Fließband. Teures Stammperso­nal wurde durch Leiharbeit­er ersetzt, denen die enge Bindung an Produkt und Unternehme­n fehlt.

Die Fabriksarb­eiter haben zu viel Verantwort­ung, die Manager drücken sich davor. Um mehr zu bieten als die Chinesen, schraubte man die Vorgaben unrealisti­sch hoch.

Dennoch bleiben die Produktion­sunternehm­en weniger rentabel als in anderen hoch entwickelt­en Staaten. Was ein Problem ist: Nur wer genug Gewinn macht, kann nachhaltig in mehr Qualität investiere­n. Dabei ergreifen Maschinenb­auer und Zulieferer in der Vermarktun­g die Flucht nach noch weiter oben, um sich von chinesisch­er Konkurrenz abzusetzen. Ihre Kunden können die Anforderun­gen fast nach Belieben hinaufschr­auben. Das ist oft unrealisti­sch, die Fabriksarb­eiter schütteln darüber den Kopf. Von den Vorgesetzt­en im Stich gelassen, nehmen sie diverse Abkürzunge­n – bis hin zu gefälschte­n Dokumenten.

Geht der Kult um Kaizen zu Ende? Eines könnte die Japaner dabei trösten: Was die ganze Welt von ihnen kopierte, haben sie sich in Wahrheit selbst abgeschaut – vom amerikanis­chen Guru William Edwards Deming. Dieser Pionier des Qualitätsm­anagements wird in Japan so verehrt, dass er für seine Verdienste um den industriel­len Wiederaufb­au des Landes sogar einen Orden vom Kaiser erhielt. Von jüngsten Rotationen in seinem Grabe wurde noch nichts vermeldet.

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