Die Auflösung der Weltordnung
Die Europäer machen sich bei der Sicherheitskonferenz in München selbst Mut und geloben, an ihrer Weltpolitikfähigkeit zu arbeiten. Russland und die USA schlagen raue Töne an. Abwesend ist die neue große Weltmacht: China.
Alles löst sich auf. Und niemand weiß so recht, wie es weitergeht. Auch nicht der stattliche Mann im grauen Anzug und der randlosen Brille, der im dichtgedrängten Konferenzsaal des Hotels Bayerischer Hof am Podium steht. Sigmar Gabriel soll die Welt erklären. Doch er könnte nicht einmal sagen, wie lange er überhaupt noch deutscher Außenminister bleibt. Wird der Niedersachse der nächsten Bundesregierung angehören? Eher nicht. Es ist nicht einmal klar, ob die Koalition, auf die sich seine SPD und die Union in einem Papier geeinigt haben, wirklich zustande kommt.
Über die Flure der Münchner Sicherheitskonferenz jagen Gerüchte und Spekulationen. Etliche deutsche Politiker rechnen insgeheim damit, dass sich die fast 500.000 SPD-Mitglieder am Ende mehrheitlich gegen eine Neuauflage der Großen Koalition aussprechen? Und was dann? Neuwahlen? Minderheitsregierung? Das politische Schicksal der größten Macht des Kontinents ist fünf Monate nach der Wahl immer noch ungewiss. Auf der Bühne spricht niemand offen darüber. Und doch ist es eines der Topthemen im Smalltalk an den Bars und den Nischen des verwinkelten Hotels. Die Stimmung war schon besser. Sebastian Kurz ist zum fünften Mal dabei, heuer erstmals als Bundeskanzler. Im Zimmer 491 hat er sein Basislager im Bayerischen Hof, dort empfängt er Journalisten, feilt an seiner Rede. Drei Stockwerke darunter hält er, abgeschirmt von Sicherheitsleuten, seine bilateralen Treffen ab, mit Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg, dem Brexit-Verhandler der EU, Michel Barnier, und anderen. Zwischendurch wechselt er immer wieder informelle Worte: mit Russlands Außenminister Sergej Lawrow etwa, der ihm im Atrium über den Weg läuft. Das Hotel ist durchzogen von einem dröhnenden Klangteppich Hunderter gleichzeitig stattfindender Gespräche: Klein-Babel in Bayern.
Die Stimmung ist auch schon einmal besser gewesen in diesen Hallen. Die routinierten Manager des Weltgeschehens machen sich echte Sorgen, nicht nur über den europäischen Riesen Deutschland, der innenpolitisch taumelt. Wie Blei hat sich auf die Gemüter ein Gefühl globaler Ungewissheit gelegt. Die Welt ist im Umbruch.
Sigmar Gabriel, der Außenminister auf Abruf, erklimmt an diesem Samstag als Erster die Bühne im pastellfarbenen Konferenzsaal. Die Töne, die er anschlägt, sind düster. Die liberale Weltordnung zerbröckle und verschiebe sich. China errichte ein Alternativsystem – ohne Menschen- und Freiheitsrechte. Ins Gericht mit der kommunistischen Führung in Peking will Gabriel gar nicht länger gehen. Es sei ihr gutes Recht, beharrlich eine globale Idee zu verfolgen. Doch Europa müsse sich den Vorwurf gefallen lassen, keine solche Strategie zu haben.
Und die USA? Eine Spitze in Richtung Trump will sich Gabriel nicht verkneifen: „Woran sollen wir die USA messen? An den Worten, den Taten oder an den Tweets?“ Wenn der Pazifist plötzlich Panzer will. Gabriel appelliert an Europa, das Schicksal in die eigene Hand zu nehmen. Möglicherweise ist das hier seine Abschiedsvorstellung, ganz sicher ist es ein Plädoyer, die EU handlungsfähiger zu machen. Europa müsse lernen, auch Macht zu projizieren. Und dazu würden militärische Fähigkeiten gehö- ren. „Wir können unter Fleischfressern nicht als Einzige Vegetarier bleiben“, sagt ausgerechnet einer, der sonst gern den Pazifisten gibt.
Die Welt stehe am Scheideweg. „Ist das der Beginn des asiatischen Zeitalters, das Ende des Westens?“fragt er. „Oder bringt der Kontinent den Mut auf, sich nicht aus Welt zurückzuziehen?“Der neuen Welt könne Europa seinen Stempel nur gemeinsam aufdrücken. Das formuliert der deutsche Außenminister am Ende mit aller Drastik und einem Zitat von Benjamin Franklin: „We must all hang together or we will hang separately.“
Für einen Alleingang in eine ungewisse Zukunft haben sich die Briten in einem Referendum entschieden. Doch wer Theresa May bei der Münchner Sicherheitskonferenz zuhört, muss den Eindruck gewinnen, dass sie irgendwie auch nach einem Austritt Mitglied der EU bleiben will. Die Premierministerin plädiert für eine pragmatische Zusammenarbeit, beim Handel, bei außenpolitischen Fahnenfragen wie der Verhängung von Sanktionen, bei Rüstungsprojekten, vor allem aber in puncto Sicherheit: im Kampf gegen Terror und Verbrechen ebenso wie bei der Verteidigung. Bis Ende 2019 möchte sie ein Sicherheitsabkommen mit der EU unter Dach und Fach bringen.
Dann fragt Wolfgang Ischinger, der Chef der Sicherheitskonferenz, warum Großbritannien nicht gleich EU-Mitglied bleibe. Applaus brandet auf. May muss dem Publikum darlegen, dass man das britische Volk nicht einfach so lange abstimmen lassen könne, bis ein genehmes Resultat herauskommt. Aus für Einstimmigkeitsklotz? Auf Kuhhändel nach dem Motto „Tausche Sicherheitsabkommen gegen EU-Goodies“mag sich Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker indes gar nicht erst einlassen. In den Brexit-Gesprächen werde ein Thema nach dem anderen abgehandelt. Unverblümt spricht der Luxemburger über die mangelnde Weltmachtfähigkeit Europas. Er setzt sich dafür ein, das Einstimmigkeitsprinzip in der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik abzuschaffen. So könne Europa keine Weltpolitik machen. Das sei derzeit deutlich zu sehen im Umgang mit China oder Israel. Die Kommission werde deshalb Vorschläge für die Einführung qualifizierter Mehrheiten vorlegen.
In die Reformdebatte steigt wenig später Sebastian Kurz ein. In seiner Rede skizziert er seine Vision für die EU. Europa sei zuletzt öfter falsch abgebogen und spiele eine immer kleinere Rolle, sagt er. Österreichs Kanzler empfiehlt, dass sich die EU auf die großen Fragen konzentrieren und vom Klein-Klein verabschieden sollte. Doch er bringt mehr als eine Variation seines Subsidiaritäts-Mantras und seiner wiederkehrenden Aufforderungen, die EUAußengrenzen zu schützen: Ausgerechnet der Kanzler des neutralen Österreichs schließt sich dem Ruf nach einer verstärkten militärischen und polizeilichen Kooperation an.
Auch schlanker möge Europa werden, mit halb so vielen Kommissaren wie jetzt und weniger Regeln. Für leichte Irritation sorgt zeitverzögert sein Aufruf zur Verteidigung des jüdisch-christlichen Europas. Ob das der Integration (von Muslimen) förderlich sei, fragt in der nächsten Session ein Direktor einer Denkfabrik Frankreichs Premier. Der, Edouard Philippe, geht kaum darauf ein und verweist nur auf den Laizismus in seinem Staat. Es weht ein Hauch Kalter Krieg. Auf der Bühne entgeht Kurz kritischen Fragen. Mit ihm ist Premier Mateusz Morawiecki auf dem Podium; und der Pole zieht alle Pfeile auf sich, muss zum umstrittenen Holocaust-Gesetz seiner Regierung reden und provoziert selbst, als er sagt, dass Europa „more steel-tanks than think tanks“brauche („mehr Panzer als Denkfabriken“).
Als Sergej Lawrow das Wort ergreift, weht mehr als nur ein Hauch Kalter Krieg durch den Saal. Der russische Außenminister kennt nur einen Schuldigen an der Verschlechterung der Beziehungen: den Westen, der Russland nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wie einen Schüler behandelt und bei der Nato-Osterweiterung hinters Licht geführt habe. Und jetzt sei der Westen nicht bereit, den neuen weltpolitischen Einfluss Russlands anzuerkennen. In großzügiger Geste bietet Lawrow den Europäern Kooperation an. Eine starke EU sei im Interesse seines Landes, sagt er. Auch mit den USA sei Zusammenarbeit nötig, um eine neue Sicherheitsarchitektur im Nahen Osten zu schaffen.
Wenig später offeriert Konstantin Kossatschow, der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Oberhaus des russischen Parlaments, den Amerikanern, ein gemeinsames Regularium für den sogenannten Cyber-Krieg zu entwickeln. Darüber kann US-Sicherheitsberater Herbert McMaster nur lachen: „Ich zweifle, ob Sie genug Experten zur Verfügung haben. Die meisten davon waren zuletzt ja damit beschäftigt, unsere Demokratie zu unterwandern.“
Der US-General tritt eisenhart auf. Als oberste Ziele seiner Regierung bezeichnet er es, Terroristen zu vernichten und die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen zu verhindern. McMaster fordert die Weltgemeinschaft trotz des olympischen Tauwetters auf, alle Handelsbeziehungen zu Nordkorea zu kappen und nordkoreanische Gastarbeiter auszuweisen. Syriens Machthaber Assad müsse zur Rechenschaft gezogen werden für den fortgesetzten Einsatz chemischer Waffen. Auf die Liste von Schurkenstaaten setzte er implizit den Iran. Es sei Zeit, fundamentale Schwächen im Atomabkommen mit dem Iran zu beheben.
»Wir können unter Fleischfressern nicht als Einzige Vegetarier bleiben.« Kurz ruft zur Verteidigung des jüdisch-christlichen Europas auf. China, die Weltmacht, ist bei der Konferenz auf groteske Weise unterrepräsentiert.
Auch für den Kreml hatte der USSicherheitsberater noch eine Botschaft parat: Moskau verletze den Mittelstreckenraketenvertrag, aber: „Die USA werden nicht zulassen, dass Russland Zentraleuropa als Geiseln nimmt.“ Der große Elefant. Auf einmal klingt alles wieder nach ganz alter Weltordnung. Nur geisterhaft ist die große neue Macht auf der Weltbühne zu spüren, als unsichtbarer Elefant im Bayrischen Hof. China ist bei der Sicherheitskonferenz auf groteske Weise unterrepräsentiert. Das verleiht der Veranstaltung einen Phantomcharakter.