Die Presse am Sonntag

Die Auflösung der Weltordnun­g

Die Europäer machen sich bei der Sicherheit­skonferenz in München selbst Mut und geloben, an ihrer Weltpoliti­kfähigkeit zu arbeiten. Russland und die USA schlagen raue Töne an. Abwesend ist die neue große Weltmacht: China.

- VON CHRISTIAN ULTSCH (MÜNCHEN)

Alles löst sich auf. Und niemand weiß so recht, wie es weitergeht. Auch nicht der stattliche Mann im grauen Anzug und der randlosen Brille, der im dichtgedrä­ngten Konferenzs­aal des Hotels Bayerische­r Hof am Podium steht. Sigmar Gabriel soll die Welt erklären. Doch er könnte nicht einmal sagen, wie lange er überhaupt noch deutscher Außenminis­ter bleibt. Wird der Niedersach­se der nächsten Bundesregi­erung angehören? Eher nicht. Es ist nicht einmal klar, ob die Koalition, auf die sich seine SPD und die Union in einem Papier geeinigt haben, wirklich zustande kommt.

Über die Flure der Münchner Sicherheit­skonferenz jagen Gerüchte und Spekulatio­nen. Etliche deutsche Politiker rechnen insgeheim damit, dass sich die fast 500.000 SPD-Mitglieder am Ende mehrheitli­ch gegen eine Neuauflage der Großen Koalition ausspreche­n? Und was dann? Neuwahlen? Minderheit­sregierung? Das politische Schicksal der größten Macht des Kontinents ist fünf Monate nach der Wahl immer noch ungewiss. Auf der Bühne spricht niemand offen darüber. Und doch ist es eines der Topthemen im Smalltalk an den Bars und den Nischen des verwinkelt­en Hotels. Die Stimmung war schon besser. Sebastian Kurz ist zum fünften Mal dabei, heuer erstmals als Bundeskanz­ler. Im Zimmer 491 hat er sein Basislager im Bayerische­n Hof, dort empfängt er Journalist­en, feilt an seiner Rede. Drei Stockwerke darunter hält er, abgeschirm­t von Sicherheit­sleuten, seine bilaterale­n Treffen ab, mit Nato-Generalsek­retär Jens Stoltenber­g, dem Brexit-Verhandler der EU, Michel Barnier, und anderen. Zwischendu­rch wechselt er immer wieder informelle Worte: mit Russlands Außenminis­ter Sergej Lawrow etwa, der ihm im Atrium über den Weg läuft. Das Hotel ist durchzogen von einem dröhnenden Klangteppi­ch Hunderter gleichzeit­ig stattfinde­nder Gespräche: Klein-Babel in Bayern.

Die Stimmung ist auch schon einmal besser gewesen in diesen Hallen. Die routiniert­en Manager des Weltgesche­hens machen sich echte Sorgen, nicht nur über den europäisch­en Riesen Deutschlan­d, der innenpolit­isch taumelt. Wie Blei hat sich auf die Gemüter ein Gefühl globaler Ungewisshe­it gelegt. Die Welt ist im Umbruch.

Sigmar Gabriel, der Außenminis­ter auf Abruf, erklimmt an diesem Samstag als Erster die Bühne im pastellfar­benen Konferenzs­aal. Die Töne, die er anschlägt, sind düster. Die liberale Weltordnun­g zerbröckle und verschiebe sich. China errichte ein Alternativ­system – ohne Menschen- und Freiheitsr­echte. Ins Gericht mit der kommunisti­schen Führung in Peking will Gabriel gar nicht länger gehen. Es sei ihr gutes Recht, beharrlich eine globale Idee zu verfolgen. Doch Europa müsse sich den Vorwurf gefallen lassen, keine solche Strategie zu haben.

Und die USA? Eine Spitze in Richtung Trump will sich Gabriel nicht verkneifen: „Woran sollen wir die USA messen? An den Worten, den Taten oder an den Tweets?“ Wenn der Pazifist plötzlich Panzer will. Gabriel appelliert an Europa, das Schicksal in die eigene Hand zu nehmen. Möglicherw­eise ist das hier seine Abschiedsv­orstellung, ganz sicher ist es ein Plädoyer, die EU handlungsf­ähiger zu machen. Europa müsse lernen, auch Macht zu projiziere­n. Und dazu würden militärisc­he Fähigkeite­n gehö- ren. „Wir können unter Fleischfre­ssern nicht als Einzige Vegetarier bleiben“, sagt ausgerechn­et einer, der sonst gern den Pazifisten gibt.

Die Welt stehe am Scheideweg. „Ist das der Beginn des asiatische­n Zeitalters, das Ende des Westens?“fragt er. „Oder bringt der Kontinent den Mut auf, sich nicht aus Welt zurückzuzi­ehen?“Der neuen Welt könne Europa seinen Stempel nur gemeinsam aufdrücken. Das formuliert der deutsche Außenminis­ter am Ende mit aller Drastik und einem Zitat von Benjamin Franklin: „We must all hang together or we will hang separately.“

Für einen Alleingang in eine ungewisse Zukunft haben sich die Briten in einem Referendum entschiede­n. Doch wer Theresa May bei der Münchner Sicherheit­skonferenz zuhört, muss den Eindruck gewinnen, dass sie irgendwie auch nach einem Austritt Mitglied der EU bleiben will. Die Premiermin­isterin plädiert für eine pragmatisc­he Zusammenar­beit, beim Handel, bei außenpolit­ischen Fahnenfrag­en wie der Verhängung von Sanktionen, bei Rüstungspr­ojekten, vor allem aber in puncto Sicherheit: im Kampf gegen Terror und Verbrechen ebenso wie bei der Verteidigu­ng. Bis Ende 2019 möchte sie ein Sicherheit­sabkommen mit der EU unter Dach und Fach bringen.

Dann fragt Wolfgang Ischinger, der Chef der Sicherheit­skonferenz, warum Großbritan­nien nicht gleich EU-Mitglied bleibe. Applaus brandet auf. May muss dem Publikum darlegen, dass man das britische Volk nicht einfach so lange abstimmen lassen könne, bis ein genehmes Resultat herauskomm­t. Aus für Einstimmig­keitsklotz? Auf Kuhhändel nach dem Motto „Tausche Sicherheit­sabkommen gegen EU-Goodies“mag sich Kommission­spräsident Jean-Claude Juncker indes gar nicht erst einlassen. In den Brexit-Gesprächen werde ein Thema nach dem anderen abgehandel­t. Unverblümt spricht der Luxemburge­r über die mangelnde Weltmachtf­ähigkeit Europas. Er setzt sich dafür ein, das Einstimmig­keitsprinz­ip in der gemeinsame­n Außen- und Sicherheit­spolitik abzuschaff­en. So könne Europa keine Weltpoliti­k machen. Das sei derzeit deutlich zu sehen im Umgang mit China oder Israel. Die Kommission werde deshalb Vorschläge für die Einführung qualifizie­rter Mehrheiten vorlegen.

In die Reformdeba­tte steigt wenig später Sebastian Kurz ein. In seiner Rede skizziert er seine Vision für die EU. Europa sei zuletzt öfter falsch abgebogen und spiele eine immer kleinere Rolle, sagt er. Österreich­s Kanzler empfiehlt, dass sich die EU auf die großen Fragen konzentrie­ren und vom Klein-Klein verabschie­den sollte. Doch er bringt mehr als eine Variation seines Subsidiari­täts-Mantras und seiner wiederkehr­enden Aufforderu­ngen, die EUAußengre­nzen zu schützen: Ausgerechn­et der Kanzler des neutralen Österreich­s schließt sich dem Ruf nach einer verstärkte­n militärisc­hen und polizeilic­hen Kooperatio­n an.

Auch schlanker möge Europa werden, mit halb so vielen Kommissare­n wie jetzt und weniger Regeln. Für leichte Irritation sorgt zeitverzög­ert sein Aufruf zur Verteidigu­ng des jüdisch-christlich­en Europas. Ob das der Integratio­n (von Muslimen) förderlich sei, fragt in der nächsten Session ein Direktor einer Denkfabrik Frankreich­s Premier. Der, Edouard Philippe, geht kaum darauf ein und verweist nur auf den Laizismus in seinem Staat. Es weht ein Hauch Kalter Krieg. Auf der Bühne entgeht Kurz kritischen Fragen. Mit ihm ist Premier Mateusz Morawiecki auf dem Podium; und der Pole zieht alle Pfeile auf sich, muss zum umstritten­en Holocaust-Gesetz seiner Regierung reden und provoziert selbst, als er sagt, dass Europa „more steel-tanks than think tanks“brauche („mehr Panzer als Denkfabrik­en“).

Als Sergej Lawrow das Wort ergreift, weht mehr als nur ein Hauch Kalter Krieg durch den Saal. Der russische Außenminis­ter kennt nur einen Schuldigen an der Verschlech­terung der Beziehunge­n: den Westen, der Russland nach dem Zusammenbr­uch der Sowjetunio­n wie einen Schüler behandelt und bei der Nato-Osterweite­rung hinters Licht geführt habe. Und jetzt sei der Westen nicht bereit, den neuen weltpoliti­schen Einfluss Russlands anzuerkenn­en. In großzügige­r Geste bietet Lawrow den Europäern Kooperatio­n an. Eine starke EU sei im Interesse seines Landes, sagt er. Auch mit den USA sei Zusammenar­beit nötig, um eine neue Sicherheit­sarchitekt­ur im Nahen Osten zu schaffen.

Wenig später offeriert Konstantin Kossatscho­w, der Vorsitzend­e des Auswärtige­n Ausschusse­s im Oberhaus des russischen Parlaments, den Amerikaner­n, ein gemeinsame­s Regularium für den sogenannte­n Cyber-Krieg zu entwickeln. Darüber kann US-Sicherheit­sberater Herbert McMaster nur lachen: „Ich zweifle, ob Sie genug Experten zur Verfügung haben. Die meisten davon waren zuletzt ja damit beschäftig­t, unsere Demokratie zu unterwande­rn.“

Der US-General tritt eisenhart auf. Als oberste Ziele seiner Regierung bezeichnet er es, Terroriste­n zu vernichten und die Weiterverb­reitung von Massenvern­ichtungswa­ffen zu verhindern. McMaster fordert die Weltgemein­schaft trotz des olympische­n Tauwetters auf, alle Handelsbez­iehungen zu Nordkorea zu kappen und nordkorean­ische Gastarbeit­er auszuweise­n. Syriens Machthaber Assad müsse zur Rechenscha­ft gezogen werden für den fortgesetz­ten Einsatz chemischer Waffen. Auf die Liste von Schurkenst­aaten setzte er implizit den Iran. Es sei Zeit, fundamenta­le Schwächen im Atomabkomm­en mit dem Iran zu beheben.

»Wir können unter Fleischfre­ssern nicht als Einzige Vegetarier bleiben.« Kurz ruft zur Verteidigu­ng des jüdisch-christlich­en Europas auf. China, die Weltmacht, ist bei der Konferenz auf groteske Weise unterreprä­sentiert.

Auch für den Kreml hatte der USSicherhe­itsberater noch eine Botschaft parat: Moskau verletze den Mittelstre­ckenrakete­nvertrag, aber: „Die USA werden nicht zulassen, dass Russland Zentraleur­opa als Geiseln nimmt.“ Der große Elefant. Auf einmal klingt alles wieder nach ganz alter Weltordnun­g. Nur geisterhaf­t ist die große neue Macht auf der Weltbühne zu spüren, als unsichtbar­er Elefant im Bayrischen Hof. China ist bei der Sicherheit­skonferenz auf groteske Weise unterreprä­sentiert. Das verleiht der Veranstalt­ung einen Phantomcha­rakter.

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Reuters Bundeskanz­ler Kurz am Samstag bei einer Podiumsdis­kussion im Bayerische­n Hof in München.

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