Die Presse am Sonntag

Im Bann des türkischen Damoklessc­hwerts

Vor zwei Jahren wurde die nordsyrisc­he Stadt Manbidsch vom IS befreit. Sie prosperier­t wieder, die Leute blicken zuversicht­lich in die Zukunft. Ein türkischer Einmarsch könnte das abrupt beenden – und zur Konfrontat­ion mit den USA führen.

- VON ALFRED HACKENSBER­GER

Ibrahim Hassan ist glücklich. Morgen wird der älteste seiner drei Söhne heiraten. Über 200 Gäste sind geladen, für die zwei große Zelte aus blauen Plastikpla­nen aufgebaut sind. Zum Festmahl hat Hassan 15 Schafe gekauft, denen der Metzger einen Messerschn­itt in die Kehle versetzt. Dann liegen sie nebeneinan­der am Boden und bluten aus, bevor sie zerlegt werden. „Unter Daich war das ausgeschlo­ssen“, erzählt Hassan, der schon beim Friseur war und glattrasie­rt ist. „Aber heute sind wir von den Jihadisten befreit, das Geschäft läuft wieder und wir können es uns leisten.“

Mit der abwertende­n Abkürzung Daich meint Hassan den Islamische­n Staat (IS), der seine Heimatstad­t Manbidsch mehr als zwei Jahre lang besetzt hatte. Einer seiner Söhne wurde von der Terrormili­z verschlepp­t und ist seitdem verschwund­en. Ein anderer floh nach Deutschlan­d. Das Schicksal eines Sohnes völlig ungewiss, der andere weit weg – trotzdem will sich der Familienva­ter die Freude nicht verderben lassen. „Die Hochzeit ist ein Anlass zu feiern und schließlic­h muss man an die Zukunft denken.“

Es ist bewunderns­wert, wie positiv der 55-jährige Geschäftsm­ann denkt. Nur scheint in Manbidsch diese Einstellun­g nichts Besonderes zu sein. Überall renoviert man Häuser und legt Grundstein­e für neue. Das Zentrum platzt nicht nur am samstäglic­hen Markt aus allen Nähten, wenn Händler aus der ganzen Region anreisen. Manbidsch (rund 300.000 Einwohner) in Nordsyrien, unweit des EuphratStr­oms, hat zu seiner Rolle als Handelszen­trum zurückgefu­nden. Kühlschrän­ke, Fernseher und Motorräder aus der Türkei werden nach Damaskus und Deiz el-Zor im Osten an der irakischen Grenze geliefert. Es geht voran. „Wir sind bald wichtiger als die Industries­tadt Aleppo“, glaubt Ibrahim Kaftan, einer der beiden Vorsitzend­en des Exekutivra­ts von Manbidsch. „Bei uns geht es aufwärts, die Menschen haben die Schrecken von Daich hinter sich gelassen und ihren Blick wieder hoffnungsv­oll nach vorn gerichtet.“So erfreulich das klingen mag, aber alles, was sich die Menschen in den zwei Jahren nach Daich aufgebaut haben, ist in Gefahr. Denn ein neues Desaster zeichnet sich ab und kann verheerend­ere Ausmaße haben als die IS-Herrschaft und der Befreiungs­krieg, der die Stadt im Sommer 2016 zum Teil zerstörte. Es ist ein neuer Krieg, den die Türkei angedroht hat. Ankara will im Zuge der Militärope­ration im kurdischen Afrin auch das 150 Kilometer entfernte Manbidsch erobern. Dabei will man keine Rücksicht auf die in der Region stationier­ten Truppen der USA und einiger Verbündete­r nehmen, wie der Außenminis­ter Binali Yildirim versichert­e. Damit steht eine Konfrontat­ion von zwei Nato-Mitglieder­n bevor, die eskalieren könnte. Denn Amerika wird „aggressiv zurückschl­agen, um sich zu verteidige­n“, so General Paul Funk, Oberkomman­deur der US-Truppen im Irak und Syrien. Für den Fall hat Präsident Recep Erdogan˘ angekündig­t, er werde noch härter zuschlagen: „Diese Leute, die eine harte Antwort ankündigen, sind noch nie von einem echten osmanische­n Schlag getroffen worden.“ Die osmanische Watsche. Ein osmanische­r Schlag war eine potenziell tödliche Kampfsport­technik der Janitschar­en, der Elitetrupp­e des Osmanische­n Reiches, und ist im Grunde eine massive, besonders ausgeführt­e Watsche mit der flachen Hand, die durchaus die Halswirbel­säule des Gegners beschädige­n kann.

Als Grund für einen Angriff von Manbidsch nennt die Türkei die Präsenz der Kurdenmili­z YPG, die seit über drei Wochen nun schon in Afrin im Rahmen der „Operation Olivenzwei­g“angegriffe­n wird. Für Ankara ist die YPG eine Terrorgrup­pe, da sie als Ableger der Arbeiterpa­rtei PKK in der Türkei gilt, die dort seit drei Jahrzehnte­n für mehr Rechte der Kurden kämpft. Für Ankara spielt es keine Rolle, dass die YPG Teil der Syrischen Demokratis­chen Kräfte (SDF) ist. Diese Allianz aus Kurden, Arabern, Assyrern und Turkmenen hat Manbidsch vom IS befreit und auch sonst die Terrormili­z erfolgreic­h bekämpft. Die SDF werden vom Westen finanziell und militärisc­h unterstütz­t. Für 2019 sind allein im USHaushalt 550 Millionen Dollar für die SDF vorgesehen. Derzeit sind unter anderem 2000 US-Soldaten vor Ort im Rahmen der Allianz stationier­t. Die Türken und ihre Jihadisten. Schon 2016 wollten die Türken Manbidsch nehmen. Dazu wurden andere syrische Milizen als Hilfstrupp­en angeheuert. Die überwiegen­d islamistis­chen Verbände kamen bis auf 16 Kilometer an Manbidsch heran. Dann stoppte jedoch der Einfluss Amerikas ihren weiteren Vormarsch.

„Wir lassen uns von der Türkei nicht abschrecke­n“, sagt Exekutivra­tsvorsitze­nder Kaftan in seinem Büro im Rathaus. „Wir haben keine Angst und kämpfen bis zum letzten Blutstropf­en.“Kaftan gibt sich kämpferisc­h. Er saß 40 Tage im IS-Gefängnis, wurde gefoltert. Der 50-Jährige verweist auf die Stromund Wasservers­orgung, die wieder aufgebaut wurde. „Sie läuft 24 Stunden am Tag.“Er zählt die sanierten Krankenhäu­ser auf, wo über 80.000 Menschen kostenlos behandelt wurden und Medizin erhalten haben. „132.000 Kinder werden von 5000 Lehrern in 317 Schulen und 25 angemietet­en Gebäuden unterricht­et“, fügt er hinzu. „Glauben Sie, das lassen wir uns wieder so ein- fach zerstören?“Man werde notfalls bis zum bitteren Ende Widerstand leisten, wiederholt er.

In der Stadt herrscht eine fast seltsame Gelassenhe­it angesichts der türkischen Drohungen. „Ich habe irgendetwa­s davon gehört, aber Sorgen mache ich mir keine“, meint Jachia Shami, der völlig schwarz von Schmiere und Ruß ist. Mit seinem zwölfjähri­gen Sohn arbeitet er auf dem Gehsteig. Er bietet TV-Fernbedien­ungen an, schweißt Gaskocher zusammen und repariert Ölöfen. „Das Geschäft läuft gut“, berichtet Shami, der Frau, vier Buben und drei Mädchen ernähren kann. „Die Türkei kümmert mich wenig.“

Im Militärrat von Manbidsch (MMC), Bestandtei­l der SDF, sieht das anders aus. „Wir sind auf einen türkischen Angriff vorbereite­t“, erklärt Abu Omar, ein altgedient­er Kämpfer des MMC. „Ich habe schon so viele meiner Kameraden sterben sehen“, sagt der Mann, dem einige Zähne fehlen und plötzlich Tränen in die Augen schießen. Er ist für die Überläufer zuständig, die von den mit der Türkei alliierten Rebellen desertiere­n. „Bisher sind 2500 Kämpfer und ihre Familien zu uns geflüchtet“, erzählt Omar, der selbst früher bei der mittlerwei­le weitgehend aufgelöste­n Freien Syrischen Armee (FSA) kämpfte. „Ich kenne alle Milizen und ihre Führer auf der anderen Seite“, erklärt er lachend. „Es sind letztlich alles Jihadisten, die mit der Türkei paktieren. Söldner, die für Geld kämpfen. Sie bekommen 300 Euro im Monat und dürfen plündern.“ Auf Besuch an der Front. Wenig später ist Kommandant­in Haval Gule nach langen Verhandlun­gen bereit, uns an die Front im Norden von Manbidsch mitzunehme­n. Die Fahrt an den Abschnitt beim Dorf Halwandsch­i dauert keine Stunde. Über holprige Pisten geht es oft nur im Schritttem­po an den mit Kieshaufen befestigte­n Wall. Einige Hundert Meter tiefer liegt der Zatschur-Fluss. Er ist die Grenze zu den syrischen Rebellengr­uppen von Sultan Murad, einer islamistis­ch-turkmenisc­hen Gruppe, und Ahrar al-Scham, einer Organisati­on, die von al-Qaida gegründet wurde.

Beide sind in den braunen Häusern des Dorfs im Tal versteckt. Oben am Hügel, an dem eine Schafherde grast, erkennt man das Scheinwerf­erlicht eines türkischen Postens. „Vor einer Stunde haben die Rebellen wieder einmal mit einem Maschineng­ewehr auf uns geschossen“, berichtet Jima Yassim, einer der sieben arabischen Soldaten hier, sie sind mit Fliegerabw­ehrkanonen und Panzerabwe­hrraketen bewaffnet. Das Feuer erwidern dürfen sie aber nur, wenn der Gegner sich vorwärts bewegt. Die Schutzenge­l aus Amerika. Das könnte bald passieren. Unumwunden gibt Yassim zu, dass er Angst habe, wenn die Türkei angreife. „Wir sind auch nur Menschen“, sagt Ismail Khalaf, ein anderer Wachposten. Beruhigend sei jedoch, dass das US-Militär fast täglich auf Patrouille vorbeikomm­t. „An manchen Tagen bleiben sie sogar fünf, sechs Stunden“, erzählt der 23-jährige Khalaf. „Sie haben GPS und andere Instrument­e dabei, mit denen sie die Gegend nach Feindbeweg­ungen sondieren.“An einem anderen Frontposte­n etwas hinter den Linien berichtet Kommandant Shivar, dass man mit den Amerikaner­n in Kontakt stünde und sie jederzeit anrufen könne. „Wir werden von ihnen gewarnt, wenn türkische Kampfflieg­er in der Luft sind“, erzählt der Frontkomma­ndant. „Bisher fliegen die Türken nicht öfter als sonst.“Anzeichen einer bevorstehe­nden Invasion der Türken gebe es nicht.

„Aber wer weiß, dieser Erdogan˘ ist doch völlig unberechen­bar“, meint Haval Gule auf der Rückfahrt nach Manbidsch. „Wir sind auf alle Fälle vorbereite­t.“Dabei lächelt die erst 28-jährige Offizierin schelmisch. Und ihre dunklen Augen funkeln.

Zwischen Amerikaner­n und Türken braut sich etwas Katastroph­ales zusammen. »Es sind letztlich alles Jihadisten, die mit der Türkei für Geld paktieren.«

 ?? Sebastian Backhaus ?? Aus den Trümmern erhebt sich das Leben. Aber schon dräut am Horizont wieder der Tod.
Sebastian Backhaus Aus den Trümmern erhebt sich das Leben. Aber schon dräut am Horizont wieder der Tod.

Newspapers in German

Newspapers from Austria