Im Bann des türkischen Damoklesschwerts
Vor zwei Jahren wurde die nordsyrische Stadt Manbidsch vom IS befreit. Sie prosperiert wieder, die Leute blicken zuversichtlich in die Zukunft. Ein türkischer Einmarsch könnte das abrupt beenden – und zur Konfrontation mit den USA führen.
Ibrahim Hassan ist glücklich. Morgen wird der älteste seiner drei Söhne heiraten. Über 200 Gäste sind geladen, für die zwei große Zelte aus blauen Plastikplanen aufgebaut sind. Zum Festmahl hat Hassan 15 Schafe gekauft, denen der Metzger einen Messerschnitt in die Kehle versetzt. Dann liegen sie nebeneinander am Boden und bluten aus, bevor sie zerlegt werden. „Unter Daich war das ausgeschlossen“, erzählt Hassan, der schon beim Friseur war und glattrasiert ist. „Aber heute sind wir von den Jihadisten befreit, das Geschäft läuft wieder und wir können es uns leisten.“
Mit der abwertenden Abkürzung Daich meint Hassan den Islamischen Staat (IS), der seine Heimatstadt Manbidsch mehr als zwei Jahre lang besetzt hatte. Einer seiner Söhne wurde von der Terrormiliz verschleppt und ist seitdem verschwunden. Ein anderer floh nach Deutschland. Das Schicksal eines Sohnes völlig ungewiss, der andere weit weg – trotzdem will sich der Familienvater die Freude nicht verderben lassen. „Die Hochzeit ist ein Anlass zu feiern und schließlich muss man an die Zukunft denken.“
Es ist bewundernswert, wie positiv der 55-jährige Geschäftsmann denkt. Nur scheint in Manbidsch diese Einstellung nichts Besonderes zu sein. Überall renoviert man Häuser und legt Grundsteine für neue. Das Zentrum platzt nicht nur am samstäglichen Markt aus allen Nähten, wenn Händler aus der ganzen Region anreisen. Manbidsch (rund 300.000 Einwohner) in Nordsyrien, unweit des EuphratStroms, hat zu seiner Rolle als Handelszentrum zurückgefunden. Kühlschränke, Fernseher und Motorräder aus der Türkei werden nach Damaskus und Deiz el-Zor im Osten an der irakischen Grenze geliefert. Es geht voran. „Wir sind bald wichtiger als die Industriestadt Aleppo“, glaubt Ibrahim Kaftan, einer der beiden Vorsitzenden des Exekutivrats von Manbidsch. „Bei uns geht es aufwärts, die Menschen haben die Schrecken von Daich hinter sich gelassen und ihren Blick wieder hoffnungsvoll nach vorn gerichtet.“So erfreulich das klingen mag, aber alles, was sich die Menschen in den zwei Jahren nach Daich aufgebaut haben, ist in Gefahr. Denn ein neues Desaster zeichnet sich ab und kann verheerendere Ausmaße haben als die IS-Herrschaft und der Befreiungskrieg, der die Stadt im Sommer 2016 zum Teil zerstörte. Es ist ein neuer Krieg, den die Türkei angedroht hat. Ankara will im Zuge der Militäroperation im kurdischen Afrin auch das 150 Kilometer entfernte Manbidsch erobern. Dabei will man keine Rücksicht auf die in der Region stationierten Truppen der USA und einiger Verbündeter nehmen, wie der Außenminister Binali Yildirim versicherte. Damit steht eine Konfrontation von zwei Nato-Mitgliedern bevor, die eskalieren könnte. Denn Amerika wird „aggressiv zurückschlagen, um sich zu verteidigen“, so General Paul Funk, Oberkommandeur der US-Truppen im Irak und Syrien. Für den Fall hat Präsident Recep Erdogan˘ angekündigt, er werde noch härter zuschlagen: „Diese Leute, die eine harte Antwort ankündigen, sind noch nie von einem echten osmanischen Schlag getroffen worden.“ Die osmanische Watsche. Ein osmanischer Schlag war eine potenziell tödliche Kampfsporttechnik der Janitscharen, der Elitetruppe des Osmanischen Reiches, und ist im Grunde eine massive, besonders ausgeführte Watsche mit der flachen Hand, die durchaus die Halswirbelsäule des Gegners beschädigen kann.
Als Grund für einen Angriff von Manbidsch nennt die Türkei die Präsenz der Kurdenmiliz YPG, die seit über drei Wochen nun schon in Afrin im Rahmen der „Operation Olivenzweig“angegriffen wird. Für Ankara ist die YPG eine Terrorgruppe, da sie als Ableger der Arbeiterpartei PKK in der Türkei gilt, die dort seit drei Jahrzehnten für mehr Rechte der Kurden kämpft. Für Ankara spielt es keine Rolle, dass die YPG Teil der Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) ist. Diese Allianz aus Kurden, Arabern, Assyrern und Turkmenen hat Manbidsch vom IS befreit und auch sonst die Terrormiliz erfolgreich bekämpft. Die SDF werden vom Westen finanziell und militärisch unterstützt. Für 2019 sind allein im USHaushalt 550 Millionen Dollar für die SDF vorgesehen. Derzeit sind unter anderem 2000 US-Soldaten vor Ort im Rahmen der Allianz stationiert. Die Türken und ihre Jihadisten. Schon 2016 wollten die Türken Manbidsch nehmen. Dazu wurden andere syrische Milizen als Hilfstruppen angeheuert. Die überwiegend islamistischen Verbände kamen bis auf 16 Kilometer an Manbidsch heran. Dann stoppte jedoch der Einfluss Amerikas ihren weiteren Vormarsch.
„Wir lassen uns von der Türkei nicht abschrecken“, sagt Exekutivratsvorsitzender Kaftan in seinem Büro im Rathaus. „Wir haben keine Angst und kämpfen bis zum letzten Blutstropfen.“Kaftan gibt sich kämpferisch. Er saß 40 Tage im IS-Gefängnis, wurde gefoltert. Der 50-Jährige verweist auf die Stromund Wasserversorgung, die wieder aufgebaut wurde. „Sie läuft 24 Stunden am Tag.“Er zählt die sanierten Krankenhäuser auf, wo über 80.000 Menschen kostenlos behandelt wurden und Medizin erhalten haben. „132.000 Kinder werden von 5000 Lehrern in 317 Schulen und 25 angemieteten Gebäuden unterrichtet“, fügt er hinzu. „Glauben Sie, das lassen wir uns wieder so ein- fach zerstören?“Man werde notfalls bis zum bitteren Ende Widerstand leisten, wiederholt er.
In der Stadt herrscht eine fast seltsame Gelassenheit angesichts der türkischen Drohungen. „Ich habe irgendetwas davon gehört, aber Sorgen mache ich mir keine“, meint Jachia Shami, der völlig schwarz von Schmiere und Ruß ist. Mit seinem zwölfjährigen Sohn arbeitet er auf dem Gehsteig. Er bietet TV-Fernbedienungen an, schweißt Gaskocher zusammen und repariert Ölöfen. „Das Geschäft läuft gut“, berichtet Shami, der Frau, vier Buben und drei Mädchen ernähren kann. „Die Türkei kümmert mich wenig.“
Im Militärrat von Manbidsch (MMC), Bestandteil der SDF, sieht das anders aus. „Wir sind auf einen türkischen Angriff vorbereitet“, erklärt Abu Omar, ein altgedienter Kämpfer des MMC. „Ich habe schon so viele meiner Kameraden sterben sehen“, sagt der Mann, dem einige Zähne fehlen und plötzlich Tränen in die Augen schießen. Er ist für die Überläufer zuständig, die von den mit der Türkei alliierten Rebellen desertieren. „Bisher sind 2500 Kämpfer und ihre Familien zu uns geflüchtet“, erzählt Omar, der selbst früher bei der mittlerweile weitgehend aufgelösten Freien Syrischen Armee (FSA) kämpfte. „Ich kenne alle Milizen und ihre Führer auf der anderen Seite“, erklärt er lachend. „Es sind letztlich alles Jihadisten, die mit der Türkei paktieren. Söldner, die für Geld kämpfen. Sie bekommen 300 Euro im Monat und dürfen plündern.“ Auf Besuch an der Front. Wenig später ist Kommandantin Haval Gule nach langen Verhandlungen bereit, uns an die Front im Norden von Manbidsch mitzunehmen. Die Fahrt an den Abschnitt beim Dorf Halwandschi dauert keine Stunde. Über holprige Pisten geht es oft nur im Schritttempo an den mit Kieshaufen befestigten Wall. Einige Hundert Meter tiefer liegt der Zatschur-Fluss. Er ist die Grenze zu den syrischen Rebellengruppen von Sultan Murad, einer islamistisch-turkmenischen Gruppe, und Ahrar al-Scham, einer Organisation, die von al-Qaida gegründet wurde.
Beide sind in den braunen Häusern des Dorfs im Tal versteckt. Oben am Hügel, an dem eine Schafherde grast, erkennt man das Scheinwerferlicht eines türkischen Postens. „Vor einer Stunde haben die Rebellen wieder einmal mit einem Maschinengewehr auf uns geschossen“, berichtet Jima Yassim, einer der sieben arabischen Soldaten hier, sie sind mit Fliegerabwehrkanonen und Panzerabwehrraketen bewaffnet. Das Feuer erwidern dürfen sie aber nur, wenn der Gegner sich vorwärts bewegt. Die Schutzengel aus Amerika. Das könnte bald passieren. Unumwunden gibt Yassim zu, dass er Angst habe, wenn die Türkei angreife. „Wir sind auch nur Menschen“, sagt Ismail Khalaf, ein anderer Wachposten. Beruhigend sei jedoch, dass das US-Militär fast täglich auf Patrouille vorbeikommt. „An manchen Tagen bleiben sie sogar fünf, sechs Stunden“, erzählt der 23-jährige Khalaf. „Sie haben GPS und andere Instrumente dabei, mit denen sie die Gegend nach Feindbewegungen sondieren.“An einem anderen Frontposten etwas hinter den Linien berichtet Kommandant Shivar, dass man mit den Amerikanern in Kontakt stünde und sie jederzeit anrufen könne. „Wir werden von ihnen gewarnt, wenn türkische Kampfflieger in der Luft sind“, erzählt der Frontkommandant. „Bisher fliegen die Türken nicht öfter als sonst.“Anzeichen einer bevorstehenden Invasion der Türken gebe es nicht.
„Aber wer weiß, dieser Erdogan˘ ist doch völlig unberechenbar“, meint Haval Gule auf der Rückfahrt nach Manbidsch. „Wir sind auf alle Fälle vorbereitet.“Dabei lächelt die erst 28-jährige Offizierin schelmisch. Und ihre dunklen Augen funkeln.
Zwischen Amerikanern und Türken braut sich etwas Katastrophales zusammen. »Es sind letztlich alles Jihadisten, die mit der Türkei für Geld paktieren.«