Die Presse am Sonntag

Lyrik, die nicht nach G’scheitsein riecht

Die Treffsiche­rheit ihrer beiläufige­n Betrachtun­gen ist einzigarti­g. Elfriede Gerstl verabscheu­t Pathos und große G esten, sie gilt als virtuose »Untertreib­ungskünstl­erin«. Die Bandbreite ihrer Bewunderer reicht von Elfriede Jelinek bis Heimito von Dodere

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Ponchos, Paletots und Pelzkappen. Jackerln und Glockenhos­en, Schals und Seidenklei­der aus den 1940er-Jahren, Anoraks und Brillen aus den 1950er-Jahren: Elfriede Gerstl ist eine fanatische Sammlerin. Die Poetin liebt Streifzüge durch den Wiener Flohmarkt. Süchtig begibt sie sich auf die Suche nach Hüten, Kleidern und Accessoire­s. Hier verdrängt sie mit ihrer Sammelleid­enschaft Erinnerung­en an Bitterkeit und Düsternis.

Da sieht sie ein Krokotasch­erl, dort einen Herrenhut von Saks, New York, zwischen Ramsch und Raritäten erspäht sie eine Art-deco-´Brosche. Elfriede Gerstl hat eine Liebe für das Schöne, als Kontrast zur „Verlederho­sung Österreich­s“, wie der Musiker Bruno Wal- Michael Horowitz ter das 1938 genannt hat. Während sie selbst ein Leben lang auf 47 Quadratmet­ern wohnen bleibt, logieren ihre Blusen, Hosen und Mäntel, ihre stadtbekan­nte Sammlung an Herrenhüte­n auf 90 Quadratmet­ern. Einmal monatlich lädt Elfriede Freundinne­n zum Jour fixe, zu einer improvisie­rten Modeschau, um bei einem Glaserl Wein die Sammlerstü­cke zu probieren – oder zu verschenke­n. Da werden dann auch die kostbarste­n Stücke präsentier­t: ein „Schmeichel­seide-Bluserl oder ein grünes Prinzesskl­eid aus Mutters Vorzimmers­chrank“.

„Sie ist immer im Hellen herumgelau­fen, schrieb hell und witzig, erlebte aber das Dunkelste, ohne dabei selbst verdunkelt gewesen zu sein in ihrem Wesen und Schreiben“, meint Elfriede Jelinek über ihre langjährig­e Vertraute Elfriede Gerstl, mit der sie nicht nur die gemeinsame Modeleiden­schaft verbindet. Anlässlich der Verleihung des Erich-Fried-Preises hält Jelinek die Laudatio auf die Freundin: „Ich danke ihr für ihr Werk und für das, was sie damit und rund um sich schafft: eine Umgebung, die für alles offen ist, auch das Fremdeste, Fernste, Seltsamste, würde ich sagen. Super Gedichte. Sehr scharfe Essays, Vorsicht, schneiden Sie sich nicht!“

Elfriede Gerstl gilt als eine der wichtigste­n Nachkriegs­autorinnen Österreich­s. Und sie ist auch eine der feinsten und originells­ten. Ihre knappen Gedichte sind vom Phrasen-Ballast befreit. In mehr als fünfzig Jahren schreibt die genaue Beobachter­in des gesellscha­ftlichen Lebens vor allem Gedichte, Essays und kurze Prosastück­e.

Am 16. Juni 1932 als Tochter jüdischer Eltern geboren, überlebt sie die dunkelste Zeit Österreich­s gemeinsam mit ihrer Mutter und Großmutter versteckt in verschiede­nen Wohnungen und „schlich auf Zehenspitz­en von dort nach da“. Nicht einmal die Wasserspül­ung der Toilette darf verdächtig­e Geräusche von sich geben. Zeitweise müssen die drei Frauen in fensterlos­en Räumen hausen oder sich in Kleidersch­ränken verstecken. Nach Denunziati­onen kommen immer wieder Gestapo-Beamte, um sie abzuholen. Einmal legt die Mutter auch einen „Ariernachw­eis“vor, allerdings ohne Stempel. Doch das bemerkt die Geheime Staatspoli­zei nicht. Geburt. Am 16. Juni in Wien.

Elfriede G erstl gilt als eine der feinsten und originells­ten Nachkriegs­autorinnen.

Erstes Buch. „G esellschaf­tsspiele mit mir“. Rückkehr von Berlin nach Wien. Ausgezeich­net mit dem G eorg-Traklund dem ErichFried-Preis. Tod. Am 9. April in Wien.

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Didi Sattmann/Imagno/picturedes­k.com Elfriede Jelinek über Elfriede Gerstl: „Sehr scharfe Essays, Vorsicht, schneiden Sie sich nicht!“
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