Internet der Zellen?
Zellen von Tieren sind nicht direkt miteinander verbunden, das steht in den Büchern. Aber es finden sich immer mehr Leitbahnen zwischen ihnen.
Anno 2000 ging im Labor des Neurobiologen Hans-Hermann Gerdes an der Uni Heidelberg etwas nicht nach Plan: Sein Doktorand Amin Rustom hatte bei einem Experiment mit fluoreszenzmarkierten Proteinen in Nervenzellen von Ratten geschlampt und einen Schritt des Protokolls ausgelassen – das Reinigen der Zellen –, daraufhin leuchteten Proteine plötzlich auch in ganz anderen, weit entfernten Zellen. Gemeinsam wiederholten Gerdes und Rustom das abgeschlankte Experiment, und nun sahen sie Verbindungen zwischen den Zellen, durch die das Leuchten wanderte. 2004 stand der Befund in Science: „Nanotubular Highways for Intercellular Transport“( 303, S. 1007).
Damit war endgültig ein Thema in der Welt bzw. in der Biologie und Medizin, das es laut Lehrbüchern überhaupt nicht geben konnte, zumindest nicht im Tierreich. In dem sind die einzelnen Zellen gegeneinander abgegrenzt und kommunizieren nur umwegig über Signalstoffe, die von den einen ausgeschieden und von den anderen mit Rezeptoren aufgenommen werden. Bei Pflanzen ist es anders, bei ihnen gibt es Verbindungen – Plasmodesmen –, eine Reminiszenz haben auch Tiere, „gap junctions“. Mit denen können sich direkt benachbarte Zellen kurzfristig eng zusammentun, das ist eng auch in dem Sinn, dass nur extrem Kleines durch die Verbindungen kommt, größer als zwei Nanometer darf es nicht sein.
Aber 1999 fiel als Erstem dem Zellbiologen Thomas Kornberg (UC San Francisco) etwas auf, an Fruchtfliegen: Bei der Entwicklung ihrer Flügel sah er weit voneinander entfernte Zellen durch etwas verbunden, was er Cytomere nannte – Zellfäden –, er vermutete, dass sie dem Transport von Signalstoffen dienten ( Cell 97, S. 599). Ähnliches zeigte sich 2012, wieder an Fruchtfliegen, diesmal im Labor von Yukio Yamashita (University of Michigan): Dort ging ihre Mitarbeiterin Mayu Inaba der Spermaproduktion der Fliegen nach, sie baute manche Zellen gentechnisch so um, dass sie besondere Proteine produzierten. Aber die tauchten dann auch in weit voneinander entfernten Zellen auf, es sah aus wie „Teleportation“, dem näheren Blick zeigten sich Verbindungen ( Nature 523, S. 329).
Hatte die ganze Zunft die jahrelang übersehen? Oder waren die Funde Laborartefakte, vielleicht gar Kratzer in den Petrischalen? Das vermuteten zunächst viele, mit beigetragen hatte der leicht reißerische Name, den Gerdes/ Rustom ihrem Fund gegeben hatten: Nanotubes waren damals eines der heißesten Themen, allerdings in der Chemie. Aber aller Skepsis zum Trotz fand sich das Phänomen immer häufiger und in immer mehr Varianten und bei immer mehr Zelltypen, von denen des Immunsystems bis zu denen des Herzens: Die Röhrchen waren kürzer oder länger, sie hatten auch ganz unterschiedliche Durchmesser, zwischen 50 und 200 Nanometer. Aber zunächst fand man sie eben nur in Zellkulturen, und dort findet sich manches, was es in lebenden Körpern nicht gibt: Michael Dustin, Immunologe in Oxford, weist etwa darauf hin, dass weiße Blutzellen sich in Petrischalen – und nur dort – in „wunderbar symmetrischen Mustern“anordnen können. Refugien für Tumore? Aber dann war man, wieder in einem Labor in Heidelberg, hinter etwas ganz anderem her: Frank Winkler entwickelte ein System, in dem man beobachten kann, wie bestimmte Hirntumore wachsen, Gliome. Dazu spritzte er menschliche Zellen dieser Tumore in Gehirne von Mäusen, in die man hineinsehen konnte, weil in die Schädelknochen Glas eingelassen worden war. Als die Tumorzellen wuchsen, wuchsen bei manchen auch Auswüchse, die sie mit anderen Zellen verbanden. Und als man allen mit Strahlentherapie zu Leibe rückte, starben die isolierten, die verbundenen hingegen überlebten, offenbar konnten sie ihre Giftbelastung auf andere verteilen ( Nature 528, S. 93).
„Das war eine bahnbrechende Publikation“, urteilt George Okafo, der beim Pharmariesen Glaxo-Smith-Kline arbeitet und neben Tumoren noch viele andere Krankheiten bzw. ihre Erreger im Verdacht hat, sich über ein Netzwerk von Röhrchen auszubreiten, die Liste reicht von Alzheimer und Par- kinson über Malaria und HIV bis hin zu Prionenkrankheiten. Warum sind die alle so schwer bis überhaupt nicht zu therapieren? Weil die Röhrchen auch Refugien sind, in die Medikamente nicht leicht eindringen, und weil sie obendrein die Verbreitung der Erreger beschleunigen, vermutet Okafo (Nature 549, S. 322).
Zumindest für Aids sieht das HIVSpezialist Eliseo Eugenin (Rutgers) genau so: Im Körper neu Infizierter greifen die Viren so rasch um sich, dass ein bloßer Kontakt von infizierten und nicht infizierten Zellen aus schlichten Gründen der Mathematik die Geschwindigkeit nicht erklären kann. Und in einem Körperteil breitet sich auch etwas aus, gegen das trotz endloser Mühen, Millionen und Medikamententests nichts gefunden werden konnte: Morbus Alzheimer. Zu Jahresbeginn hat Pharmagigant Pfizer resigniert die Forschung auf diesem Gebiet eingestellt. Zufällig zeigte in der gleichen Woche Thomas Cope (Cambridge), dass eine der Signaturen von Alzheimer – zellinterne Ablagerungen von Tauproteinen – sich im Gehirn ausbreitet, wie Infektionen das tun, und dass sie das vermutlich über die klassische Verbindung von Nervenzellen – die Spalten der Synapsen – tun ( Brain, awx347). Oder gibt es noch andere Kanäle?
Das Phänomen zeigte sich, als in einem Experiment eine Chemikalie eingespart wurde.
Das ist natürlich Spekulation, wie vieles im Netzwerk der Zellen, bei dem oft nicht klar ist, was transportiert wird – selbst Mitochondrien will man gesichtet haben (Circulation Research 96, S. 1039) – und wie es transportiert wird, es darf ja nur in eine Richtung gehen, sonst wären miteinander verbundene Zellen bald gleich bzw. eine Zelle. Noch ist vieles im Halbdunkeln, es gibt kaum Bilder von Nanotubes, schon gar keine scharfen. Das mag daran liegen, dass sie extrem empfindlich sind, nicht nur auf das Reinigen, das Rustom sich und ihnen erspart hat, sondern auch auf Chemikalien, mit denen Zellen unter Elektronenmikroskopen fixiert werden. Die bringen sie vermutlich zum Verschwinden, bevor man noch einen Blick auf sie werfen kann.
Das Phänomen zeigt sich bisher nur unscharf, vielleicht anderer Chemikalien wegen.