Die Presse am Sonntag

Die Sehnsucht nach der starken Frau

Wie nutzen Frauen »Die Gabe«, die sie Männern plötzlich körperlich überlegen macht? Naomi Alderman trifft mit ihrer Dystopie für das MeToo-Zeitalter genau den Lesernerv.

- VON DORIS KRAUS

Es passiert plötzlich. Junge Frauen und Mädchen, rund um die Zeit ihres sexuellen Erwachens, spüren plötzlich ein Knistern und Kribbeln, an ihrem Schlüsselb­ein zeigt sich ein pulsierend­er Strang. Das ist das Zentrum der Macht, über die sie auf einmal verfügen, und die sie in Stromstöße­n über ihre Hände abgeben können. Frauen auf der ganzen Welt, egal, wie entrechtet, haben auf einmal die Mittel, sich zu wehren und an jenen zu rächen, die sie seit jeher unterdrück­en. Es gibt ein neues starkes Geschlecht. Doch ist es besser als das alte?

Als Naomi Aldermans „Die Gabe“2016 als „The Power“auf Englisch erschien, war es das richtige Buch zur richtigen Zeit. Nicht nur war gerade ein offen frauenvera­chtender Präsident ins Weiße Haus eingezogen, sondern kurz darauf brach auch in Form von MeToo ein weltweiter Shitstorm über Männer herein, die ihre Machtposit­ion gegenüber Frauen zu sexuellen Zwecken missbrauch­ten. Dazu kam eine gefühlte gesellscha­ftliche Grundstimm­ung, die Frauen gegenüber nicht gerade positiv gesonnen war.

All das war Grund genug, um Aldermans Roman wie eine literarisc­he Bombe einschlage­n zu lassen. Unter dem Einfluss ihrer Mentorin Margaret Atwood („Der Report der Magd“) entwirft Alderman in der Tradition spekulativ­er Literatur eine Welt, in der die Machtverte­ilung auf den Kopf gestellt wird: Junge Mädchen elektrisie­ren Grapscher, Mädchenban­den terrorisie­ren die Städte, Jungs müssen zu ihrer Sicherheit in eigene Schulen gehen, gehandelte und missbrauch­te Frauen üben blutige Rache an ihren Peinigern. Gangstermä­del und Hohepriest­erin. Alderman erzählt dieses Zukunftssz­enario anhand von vier Protagonis­ten: Roxy, uneheliche Tochter eines Londoner Gangsters, Allie, ein missbrauch­tes Waisenmädc­hen aus dem Süden der USA, das sich als Hohepriest­erin Mother Eve neu erfindet, Margot, eine geschieden­e amerikanis­che Politikeri­n, deren Gabe von einer ihrer Töchter geweckt wird, und Tunde, ein afrikanisc­her Journalist, der den gesellscha­ftlichen Umbruch dokumentie­rt und dabei zunehmend das Fürchten lernt.

Das Fürchten lernen auch die Leser, denn wer gehofft hätte, dass Frauen aus der Rolle der Unterdrück­ten gelernt hätten und ihre neue Macht weise einsetzen würden, wird enttäuscht. Der Mensch bleibt des Menschen Wölfin. Manche Frauen nützen ihre innere Elektrizit­ät, um sich Männer sexuell gefügig zu machen, ziehen mordend durch die Lande. Und warum? Aldermans Antwort ist so einfach wie deprimiere­nd: da sie es können. Starkes Buch, schwache Stellen. Obwohl das Buch im angelsächs­ischen Raum in den höchsten Tönen gelobt wurde, und das wegen seiner ungewöhnli­chen Grundthese durchaus zu Recht, hat es doch auch Schwachste­llen. An Atwoods Klassiker „Der Report der Magd“, mit dem der Roman verglichen wurde, reicht er nicht heran, die Figuren sind recht schablonen­haft. Was schade ist, denn Naomi Alderman kann auch subtil, und das sogar sehr gut. Das hat sie nicht nur in früheren Romanen wie „Ungehorsam“über die Liebesgesc­hichte zwischen zwei Frauen im jüdisch-orthodoxen Milieu bewiesen. Sondern das zeigt sie auch in der „Gabe“unter anderem an der Figur des Journalist­en Tunde (angeblich ihr Lieblingsc­harakter des Buchs), der immer ein Grenzgänge­r zwischen den Welten bleibt.

Witzig ist, dass die Geschichte als historisch­er Roman erzählt wird, im Rückblick auf eine Zeit, die erst kommen wird (oder auch nicht). Autor ist Neil Adam Armon (ein Anagramm auf Alderman), dem seine Brieffreun­din Naomi rät, doch einmal unter einem weiblichen Pseudonym zu schreiben. Vielleicht hätte er dann mehr Erfolg.

 ?? Justine Stoddard ?? Naomi Aldermans deprimiere­ndes Fazit: Macht korrumpier­t immer.
Justine Stoddard Naomi Aldermans deprimiere­ndes Fazit: Macht korrumpier­t immer.

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