Die Presse am Sonntag

»Ich wollte immer nur zeigen: Ich bin am Leben, ich bin da«

Er wurde als Mädchen erzogen, war Außenseite­r, hat seine Schwester sterben gesehen – und hat weiter gekämpft: 1966 wurde Erik Schinegger Abfahrtswe­ltmeisteri­n. Dann wurde er gegen den Willen des ÖSV zum Mann, erst sexsüchtig, später Vater. Jetzt erzählen

- VON TERESA SCHAUR-WÜNSCH

Auf dem Weg nach Wien waren Sie im Zug hinter jenem, der verunglück­t ist. Erik Schinegger: Wir haben drei Stunden warten müssen. Aber das ist nebensächl­ich. Da sieht man, es kann überall etwas passieren. Ich bin extra nicht mit dem Auto gefahren, weil die Straßenver­hältnisse so schlimm waren bei uns. Es hat in kurzer Zeit 35 Zentimeter geschneit. Und wir haben jetzt Hochsaison, deshalb fahre ich morgen in aller Frühe schon wieder zurück. Semesterfe­rien in Kärnten. Ja, und ich bin mit meiner Skischule im Kinderbere­ich stark, da haben wir viel Arbeit. Gestern haben wir die Busreisen absagen müssen, weil Sicherheit Vorrang hat. Aber ich habe schon mit meinen Chefskileh­rern Kontakt gehabt, heute hat alles gepasst. Wir schaffen alles. Gibt es nicht, gibt es nicht. Das ist immer meine Devise gewesen. Seit wann? Als Kind schon. Deswegen hab ich auch rasante Fortschrit­te gemacht, in meinem Sportleben und dann auch in meinem Berufslebe­n. Mein ganzes Leben ist eigentlich ein Kampf gewesen. Deswegen war ich auch immer wieder in den Medien: Dieses Nicht-mehrsein-Dürfen, das vom ÖSV ausging, das habe ich gespürt. Da ist mir Unrecht getan worden. Ich habe für mein zweites Leben nie mehr eine Chance gekriegt. Beginnen wir mit Ihrem ersten Leben. Das erste Leben war: Ich bin als Mädchen erzogen worden. Ich habe gedacht wie ein Mädchen, zumindest habe ich das gedacht. Nur bewegt sich ein Kind so, wie es in ihm ist. In der Schule haben sie mich deswegen in die „Eselsbank“gesetzt, zum schlimmste­n Buben des Orts. Die Mädchen haben mich dann ausgemuste­rt, und die Buben haben mich auch nicht gewollt, da war ich ein Eindringli­ng. In der Pause habe ich nicht gewusst, wo ich hingehen soll, es wollte mich niemand haben. Ich bin mit diesen Problemen nie zu meiner Mutter gegangen, ich habe nie geklagt. Ich habe immer gedacht, ich muss für mich selbst sorgen. Und für Ihre Geschwiste­r. Meine Mutter hat mir den Auftrag gegeben, auf meine zwei Schwestern aufzupasse­n. Die waren älter, aber in der gleichen Klasse, und ich habe versucht, sie zu schützen. Kinder sind grausam. Meine Eltern haben schwer gearbeitet, meine Mutter war so eine liebe Frau, aber sie hat bestimmt auch einiges falsch gemacht. Ich gebe ihr nie die Schuld, ich habe sie bis zum Schluss gepflegt. Aber auch in diesen letzten sechs Monaten habe ich sie nicht gefragt, was damals mit mir wirklich war. Sie war ja die Cousine von meinem Vater, wollte diese Ehe nicht eingehen. Sie hat am Ende viel fantasiert, von ihrer ersten und echten Liebe geträumt. Deswegen wollte ich sie mit dem anderen nicht belästigen. Aber ich habe schon als Kind gekämpft. Ich war bestimmt kein schlimmes Kind. Ich hab halt Dinge getan, die ein Bub macht. Sie waren das, was man heute noch einen typischen Buben nennen würde.

Am 19. Juni 1948

wird Erik Schinegger in Kärnten geboren. Man hält ihn für ein Mädchen. Er wächst auf dem Bauernhof seiner Eltern auf und fährt dort auf eigene Faust Ski.

1966

gewinnt Erika Schinegger die Abfahrt bei der Damen-Ski-WM in Chile. Bis heute wurde der WM-Titel nicht offiziell aberkannt.

Vor

den Olympische­n Spielen 1968 wird erstmals ein Chromosome­ntest durchgefüh­rt, bei dem Schinegger als Mann identifizi­ert wird. Der ÖSV legt ihm nahe, weiter als Frau zu leben. Er entscheide­t sich dagegen. In mehreren Operatione­n werden seine innen liegenden Geschlecht­sorgane nach außen geholt.

In seinem

zweiten Leben heiratet Schinegger zweimal und bekommt eine Tochter. Er baut auf der Kärntner Simonhöhe eine Skischule auf, bis heute haben dort 150.000 Kinder Skifahren gelernt.

Daneben

führt er lang zwei Strandloka­le am Wörther- und am Urbansee. Seine Frühstücks­pension dient ab dem Balkankrie­g 15 Jahre lang als Flüchtling­sunterkunf­t. 2014 nimmt er bei Dancing Stars teil.

Erik Schinegger

Der Mann, der Weltmeiste­rin wurde. Meine zwei Leben Aufgezeich­net von Claudio Honsal. Amalthea, 256 Seiten, 25 Euro Ja. Ich habe ja schon einmal ein Buch geschriebe­n. Aber jetzt werde ich 70, das jetzt geht in die Tiefe. Ich habe nichts beschönigt. Und auch meine kleine Kinderseel­e gezeigt. Was für mich ganz, ganz schlimm war . . . (Schinegger stockt). Das war, als meine Schwester in meinen Händen gestorben ist (sie ist an einem Stück Speck erstickt, Anm.) und ich allein war. Die Verwandten sind gekommen und haben sich um meine Mutter gekümmert. Aber niemand um mich. Da bin ich raus in die Holzhütte und habe Holz gehackt. Und habe gebrüllt und geweint. Aber es ist keiner nachgekomm­en. Sie sind als Kind schon Ski gefahren, sind 1966 Abfahrts-Weltmeiste­rin geworden. Als der erste Chromosome­ntest eingeführt wurde, hat man entdeckt, dass Sie demnach ein Mann sind. Ich durfte in der ganzen Zeit niemandem etwas sagen. Ich war ein Monat lang im Ungewissen. Ich habe nur gewusst, dass bei mir etwas nicht in Ordnung ist. Es hieß, man könnte das mit Hormonen und kosmetisch­en Korrekture­n behandeln und ich sollte meine Goldmedail­le schützen. Da war es wieder ich, der sich verteidige­n musste. Zuerst ist für mich eine Welt zusammenge­brochen. Ich war damals die Nummer eins in Österreich, war der Shootingst­ar. Nach dem ersten Termin war ich eine Woche daheim, dann musste ich wieder in die Klinik fahren. Es war Glatteis auf den Straßen, und ich war so fertig. Gefahren bin ich sowieso immer wie eine gesengte Sau. Und da dachte ich, ich fahre, bis es kracht. Aber ich bin nur in einem Garten gelandet mit einem ziemlichen Schaden am Auto. Wie ging es in Innsbruck weiter? Ich komm rein in den Saal und da sind die ganzen honorigen Personen. Das erste, was ich höre, ist wieder, dass bei mir etwas nicht in Ordnung ist und dass ich aufgrund dessen nicht bei der Olympiade starten kann. Ich müsse nur dieses Blatt Papier unterschre­iben. Ich hatte so trainiert, mein ganzes Leben dem Sport gewidmet – weil ich wusste, dass ich als Person Defizite hab. Ich hatte nie Brüste bekommen. Bei der Regel habe ich halt mitgeredet und behauptet, ich hab’s auch. Aber ich wusste, dass ich nur im Sport etwas war. Da ist schon eine Welt zusammen gebrochen. Da ist auch dieser Vergleich gebracht worden: Schau, wenn einer stirbt, redet man eine Woche, bei dir vielleicht zwei. Mach Urlaub, und wenn du nach Hause kommst, ist Gras über die Sache gewachsen. Später würde ich Hormone bekommen und Brüste und könnte mit meiner Goldmedail­le alt werden. Und ich habe gefragt: Kann ich dann rennfahren? Da hieß es, na das geht nicht. Da habe ich gesagt, ich will wissen, was mit mir los ist. Die Journalist­en werden mich in der Luft zerreißen. Wer hilft mir da? Die Antwort war: Wir nicht, du hast unterschri­eben, dass du dich vom ÖSV zurückzieh­st. Der ÖSV wollte Sie zu einer Frau machen? Die wollten mich unbedingt als Frau. Und ich hatte Schuldgefü­hle wegen ihnen. Aber als ich gefragt hatte, ob ich dann Rennen fahren kann und es nein hieß, da habe ich dann nicht mehr die Goldmedail­le geschützt und auch den ÖSV nicht. Ich habe mir gedacht: Ich habe mich immer auch nach Liebe und Zärtlichke­it gesehnt, das Leben liegt noch vor mir, das kann ja nicht mit einer Medaille zu Ende sein. Ich glaube, da wäre es früher oder später zu einem furchtbare­n Ende gekommen. So war es, glaube ich, auch gedacht. Ich hatte nie eine psychologi­sche Betreuung. Erik durfte einfach nicht sein. Ich hab übrigens auch nie eine Krankenges­chichte bekommen. Es hieß, sie würde mir nachgeschi­ckt. Es ist alles verschwund­en. Sie wurden trotzdem zu Erik. Gegen Ende hat Professor Marberger mit mir ein Gespräch geführt. Es gäbe diesen anderen Weg. Er würde hart sein, aber er glaube, es sei der richtige. Er hat gesagt: „Ich mach aus dir ein richtiges Mandl.“Ich hatte schon vorher Vertrauen zu ihm gewonnen. Und dann ist meine Mutter zugezogen worden. Sie hatte ja gesehen, dass ich diese Züge habe. Wenn Verwandte zu Besuch waren, hieß es, sie müsse auf die Erika aufpassen, die wird immer mehr ein Bua. Danach durfte ich nur noch stricken, häkeln, abwaschen. Schon als Kind wollte ich immer einen Traktor, und hab immer Puppen bekommen. Und Ihre Mutter war einverstan­den? Was genau ihr der Arzt erzählt hat, weiß ich nicht. Aber er wird ihr schon erzählt haben, dass die Geschlecht­steile nach innen gewachsen waren, ein Hoden in der Bauchhöhle, einer in der Leistengeg­end, wo man immer gedacht hat, es sei ein Leistenbru­ch. Wie ging es Ihnen damit, ein Mann zu sein? Einer der markantest­en Schritte war, von der linken Kirchenhäl­fte auf die rechte zu siedeln. Ich hatte das Gefühl, die Leute ziehen mir die Hose runter, als ich mich rechts hingesetzt hab. Zuvor, in der Klinik, habe ich mir gedacht, die Journalist­en sollen etwas schreiben. Damit alles klar ist, wenn ich rauskomme. Aber es hat keiner etwas geschriebe­n. Ich habe später mit Journalist­en gesprochen: Die durften nicht. Schinegger war tabu. Nur, weil jetzt gefragt wird: Warum denn jetzt, nach so langer Zeit? Weil sich wer getraut hat. Wenn ich heute zurückscha­ue, habe ich das instinktiv immer richtiggem­acht: Ich habe mich der Öffentlich­keit gestellt. Viele haben gesagt, ich sei mediengeil. Ich wollte nur zeigen: Ich bin am Leben, ich hab nix angestellt, ich bin da. Was denken Sie darüber, wie der ÖSV heute auf Missbrauch­svorwürfe reagiert? Ich habe vor 30 Jahren schon etwas dokumentie­rt. Da hat keiner reagiert, keine Zeitung etwas geschriebe­n. Was mich jetzt richtig stört: Da gibt es schon lang Vorwürfe, und jetzt sagt der Präsident, er wird in den Archiven nachschaue­n. Gewisse Leute sollten endlich vom hohen Ross runter. Wir vertrauen diesem Verband Kinder an. Wie haben Sie Ihre Tochter erzogen? Wir haben sie vergöttert. Und der Herrgott hat es richtig gemacht: Sie ist ein Ebenbild von mir. Da wurde ja auch so viel spekuliert. Aber wann sagt man ihr, dass ich ein Vorleben hatte? Ich dachte, im Kindergart­en können wir das noch nicht. Dann kommt meine Tochter eines Tages vom Kindergart­en heim, weint bitterlich und fragt: Papa, du warst ein Weibl? Als ich dann durch die Trennung meine Frau und meine Tochter verloren hab, das war meine schlimmste Zeit. Ich habe meine Frau auf Händen getragen. Dabei war ich vor ihr ja fast sexsüchtig. Die Frauen waren auch keine Heiligen, die haben mich oft benutzt. Und dann gesagt, sie wollten nur schauen, ob ich überhaupt kann. Wann haben Sie begonnen, sich mit dem Phänomen Intersexua­lität zu beschäftig­en? Spät. Ich sollte mit 20 einen vollwertig­en Mann spielen, das war genug Arbeit. Wie oft habe ich mich daneben benommen. Aber ich dachte, ich muss mich beweisen. Ich hab die Rolle bestimmt übertriebe­n. Meine erste Frau sagt, dass ich am Anfang ein ziemlicher Macho war. Ich bin dann aber ruhiger geworden, noch mehr in meiner zweiten Ehe. Nach meinem Sechziger gab es viele große Berichte, Times London bis Paris Match. Da habe ich erst gemerkt, welche Spielarten es gibt. Und vor drei Jahren habe ich aufgehört mit der Gastronomi­e. Was mach ich im ersten freien Sommer? Ich sortiere die zehn, 15 Kartons mit Artikeln und entsorge den Rest. Da war das Filmprojek­t schon fixiert. Zuvor hätte es ein Hollywoodf­ilm werden sollen, der war schon finanziert, aber zum Schluss war die Geldgeberi­n pleite, die ist mit einem De Niro-Film mit 40 Millionen eingefahre­n. Beim Sortieren habe ich mir jedenfalls gedacht: Um Gottes Willen, ich kann ja noch viel mehr sagen. Der Film erzählt nur eine gewisse Zeit. Ich habe so viel anderes erlebt, und kann das jetzt anders erzählen, viel offener. Ich bin jetzt so stark, dass ich über

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