Die Presse am Sonntag

Der alltäglich­e Schrecken

Angelika Klüssendor­f schließt mit »Jahre später« ihre Trilogie ab.

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„Scheiße fliegt durch die Luft.“Der erste Satz dieser Trilogie wird auch der letzte sein, und er hat es in sich. Denn die Scheiße fliegt tatsächlic­h, auf die Köpfe der Passanten und vor ihre Füße, denn das Mädchen und sein Bruder sind seit Tagen in der Wohnung eines herunterge­kommenen Mietshause­s eingesperr­t, die Mutter ist von ihrer Sauftour noch nicht zurückgeko­mmen und das Klo ist am Gang. Eine Menge Kot hat sich angesammel­t im Kübel, soll der Rest der Welt doch auch etwas davon haben: von dem Wahnsinn, mit dem die Geschwiste­r tagtäglich leben.

Angelika Klüssendor­fs „Mädchen“ist eine nüchtern-poetische Chronik der Verwahrlos­ung, verstörend gerade, weil noch die abwegigste­n Grausamkei­ten, die diese Mutter ihren Kindern antut – sie weckt etwa das ohnehin schon von Ticks geplagte Kleinkind mitten in der Nacht auf, erschreckt es mit einer Maske und weidet sich an seiner Angst – in einem Ton geschilder­t werden, als sei all dies alltäglich. Familienle­ben halt, nur dass ein Kind immer wieder eine Nacht im Kohlenkell­er verbringt. Klüssendor­fs Heldin reagiert mit oben erwähnter Wut – diese Wut wird sie retten, diese Wut lässt sie aber auch an ihrem Bruder oder an Mitschüler­n aus.

Die in Ostdeutsch­land geborene Schriftste­llerin Angelika Klüssendor­f hat – auf Anraten ihres Lektors – eine fiktionali­sierte Autobiogra­fie geschriebe­n. Zum Thema in den Feuilleton­s wurde dies allerdings erst im dritten Band: Der Chirurg Ludwig, für den sie nach Hamburg zieht und mit dem sie einen Sohn hat, war unschwer als Klüssendor­fs Ehemann, der verstorben­e FAZ-Herausgebe­r Frank Schirrmach­er, zu identifizi­eren. Man tut dem Buch aber nichts Gutes, wenn man es aus der Schlüsselp­erspektive liest. Denn „Jahre später“ist ein nachforsch­endes Buch über die Beziehung zweier Beschädigt­er und über die Schwierigk­eit, nach solchen Missbrauch­serfahrung­en selbst Mutter zu sein. Doch so schwer unserer Heldin vieles fällt, so sehr jeder Schritt nach vorn von einem schreckgew­eiteten Blick in die Vergangenh­eit begleitet wird – letztlich ist es die Geschichte eines Triumphes. Überlebt zu haben. Lieben zu können.

Angelika Klüssendor­f:

„Jahre später“Kiepenheue­r & Witsch 160 Seiten Februar 2018

Virginie Despentes:

„Das Leben des Vernon Subutex 2“Kiepenheue­r & Witsch, 395 S., 2018

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