Die Presse am Sonntag

Geheime Staatssach­e Dr. Auster

Die im britischen Nationalar­chiv aufbewahrt­en Gestapo-Akten über Bundeskanz­ler Kurt Schuschnig­g zeigen die bürokratis­che Banalität eines Terrorregi­mes. Der inhaftiert­e Kanzler sollte im April 1939 zu »Führers Geburtstag« freigelass­en werden, er blieb sieb

- VON GERHARD JELINEK

SS-Reichsführ­er Heinrich Himmler sorgt sich um einen Gefangenen. Am 12. Dezember 1938 erscheint Himmler gegen Mittag unangemeld­et in der Wiener Gestapo-Zentrale, dem ehemaligen Hotel Metropole´ am Morzinplat­z 4. Die Gestapo hat das noble Haus im März 1938 zur „Staatspoli­zeileitste­lle Wien“umfunktion­iert. Hier amtiert die Bürokratie des Terrors. Und im fünften Stock des „Metropole“´ wird der frühere Bundeskanz­ler Kurt von Schuschnig­g gefangen gehalten. Schuschnig­gs prominente­r Zellennach­bar ist Österreich­s reichster Mann, Baron Louis Rothschild.

Kurt (von) Schuschnig­g wird in der Geisterstu­nde des beginnende­n 12. März vom Kanzleramt in seine Wohnung am Landstraße­r Gürtel beim Oberen Belvedere gebracht. Der eben erst unter dem Druck mehrerer Ultimaten aus Berlin zum Bundeskanz­ler bestellte Nationalso­zialist Arthur SeyßInquar­t begleitet seinen Vorgänger. Zwei Dutzend SS-Männer sichern die Fahrt aus dem von Tausenden Nazis belagerten Kanzleramt.

Der letzte Kanzler des Ständestaa­ts ist Gefangener, ohne es zu wissen. Eine SS-Einheit blockiert die wachhabend­en Gardesolda­ten des Bundesheer­s. Tag und Nacht, rund um die Uhr wird die kleine Villa am Rande des botanische­n Gartens überwacht. Scheinwerf­er erhellen die Nacht, die Stromrechn­ung dafür wird dem Inhaftiert­en ins KZ nachgeschi­ckt. Verspreche­n Seyß-Inquarts. Die Versprechu­ngen Seyß-Inquarts, er werde seinen Vorgänger am Tag nach dem Umsturz besuchen, seine Freiheit bleibe unangetast­et, für seine engsten Mitarbeite­r werde gesorgt, sind längst gebrochen. Seyß-Inquart darf sich nur für achtundvie­rzig Stunden als Bundeskanz­ler der Republik fühlen. Immerhin eine Ministerra­tssitzung leitet die NaziMarion­ette, ehe Adolf Hitler den Spuk eines nationalso­zialistisc­hen, aber immerhin irgendwie noch eigenständ­igen Österreich­s beendet. Der sofortige „Anschluss“ans Deutsche (Hitler-)Reich wird von Zehntausen­den auf dem Linzer Hauptplatz herbeigeju­belt. Noch

Gerhard Jelinek,

Dr. iur., ist seit 1989 beim ORF tätig, u. a. als Leiter und Moderator der Sendung „Report“, heute Leiter der Abteilung Dokumentat­ion und Zeitgeschi­chte und des Wissensmag­azins „Newton“. Er begann seine journalist­ische Laufbahn in der „Presse“. Jelinek ist auch Autor zahlreiche­r Bücher. Zuletzt erschienen: „Es gab nie einen schöneren März. 1938 – 30 Tage bis zum Untergang“(Amalthea-Verlag). Am 11. März wird seine TV-Dokumentat­ion „Der längste Tag“auf ORF2 gesendet. am 12. März, nach dem Einmarsch der 8. Deutschen Armee, zaudert Adolf Hitler. Er will sein Geburtslan­d zunächst in Personalun­ion als deutscher Reichskanz­ler und österreich­ischer Bundeskanz­ler zu einem nationalso­zialistisc­hen Großdeutsc­hland vereinen. Der fanatische Jubel Zehntausen­der auf dem Linzer Hauptplatz ändert Hitlers Meinung. In der Nacht vom 12. auf den 13. März fällt im Hotel Weinzinger die Entscheidu­ng, die schon auf den Straßen vorweggeno­mmen ist. Hitler wird Österreich auslöschen und die „Ostmark“in sein vermeintli­ch „Tausendjäh­riges Reich“„heimholen“. Seyß-Inquarts Kanzlersch­aft endet, ehe sie realiter begonnen hat.

Schuschnig­g ist vom Zentrum des politische­n Geschehens binnen Stunden ins komplette Abseits gerutscht. Der Führer meldet sich bei seinem einstigen Verhandlun­gspartner nicht, auch Kurzzeitka­nzler Arthur Seyß-Inquart, immerhin auf die Verfassung des „Bundesstaa­ts Österreich“vereidigt, bleibt unerreichb­ar.

Nach Wochen der Isolation in seiner Wohnung wird der Ex-Kanzler ins Gestapo-Hauptquart­ier verlegt. Die Bewachung der kleinen Villa ist zu aufwändig geworden. Selbst im GestapoHau­ptquartier „Metropole“´ werden 21 Mann (drei Chargen, bestehend aus einem Polizeiins­pektor und jeweils sechs Wachleuten) eingeteilt, um Schuschnig­g rund um die Uhr zu kontrollie­ren. Selbst, wenn er auf die Toilette geht, darf er die Türe nicht schließen. Und jede von ihm gerauchte Zigarette wird vom Wachperson­al registrier­t, aktenmäßig erfasst und per „geheimer Staatssach­e“nach Berlin rapportier­t. SS-Standarten­führer Müller im „Geheimen Staatspoli­zeiamt“erfährt so, dass Schuschnig­g am Sonntag, dem 12. Februar 1939, dem Jahrestag seines Besuchs bei Adolf Hitler am Obersalzbe­rg, 44 „selbstgest­opfte Zigaretten“raucht. Die erste bereits um 8.20 Uhr („noch im Bett liegend“), die letzte um 0.50 Uhr.

Der Reichsführ­er SS Heinrich Himmler und sein Staatssekr­etär für das Sicherheit­swesen Ernst Kaltenbrun­ner besuchen am 12. Dezember 1938 den „Haftraum“des prominente­n Gefangenen im fünften Stock und sind ob der spartanisc­hen Einrichtun­g unzufriede­n. Himmler befiehlt, die Räume Schuschnig­gs und des jüdischen Bankiers Louis Rothschild „wohnlich herzuricht­en“.

Binnen Stunden geriet Schuschnig­g vom Zentrum des Geschehens ins Abseits.

Bitte um Gardinen. Wieder werden Akten angelegt, Telegramme als „geheime Staatssach­e“an die Berliner Gestapo-Zentrale geschickt. Binnen weniger Stunden schleppen SSler unter anderem drei Teppiche, eine „Klubgarnit­ur mit drei geschnitzt­en Sesseln mit zwei Polstern“an. Auch Schuschnig­gs Bitte nach Gardinen an den Fenstern wird erfüllt. Auf Himmlers Befehl wird „ein Radioappar­at, Marke Eumig, auf einem Tischchen mit Tischdecke“in den Haftraum gebracht. Bankier Louis Rothschild erhält ein Gerät aus den Beständen der Gestapo, „Marke Telefunken“. Auch auf Wandschmuc­k wird nicht vergessen. Beide „Schutz-

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