Die Presse am Sonntag

»Nächstes Jahr wird es noch schlimmer«

Im Gazastreif­en geht die Angst vor einer Hungersnot um. Die Menschen fürchten die Kürzung der US-Beiträge an die Hilfsorgan­isation UNWRA. Auch das vier Monate alte Abkommen zwischen Fatah und Hamas hält nicht, was es versproche­n hat.

- VON SUSANNE KNAUL

Hastig zieht eine verschleie­rte Frau eine Ölflasche aus der Tasche, ergreift das Geld des Händlers, dreht sich verstohlen um und zieht ihre kleine Tochter weg. Ihre Armut scheint sie zu beschämen, dabei sind hier fast alle arm. Der kleine Markt im Zentrum von Dschabalij­a im Norden des Gazastreif­ens ist für viele der einzige Weg, an Bargeld zu gelangen, auch wenn es nur ein paar Schekel sind, die sie für eine Flasche Öl bekommen, eine Dose Sardinen oder was sie sonst entbehren können von den Nahrungsmi­ttelpakete­n, die die UNRWA, die UN-Hilfsorgan­isation für palästinen­sische Flüchtling­e, an sie verteilt. „Zu wenig, um satt zu werden und zu viel, um zu verhungern“, resümiert Mohammed Sharaf, der nur gekommen ist, um mit den Händlern zu tratschen. „Was wir kriegen, brauchen wir selbst“, sagt der Mittfünfzi­ger über sich und seine Familie. Verkaufen kann er davon nichts.

Das Verwaltung­shaus der UNRWA steht im Zentrum der Stadt Dschabalij­a, im Norden liegt das Flüchtling­slager mit 80.000 Menschen. Genau hier begann vor 30 Jahren die erste Intifada, der Volksaufst­and der Palästinen­ser gegen die israelisch­e Militärbes­atzung. Dicht an dicht reihen sich die drei- bis vierstöcki­gen Häuser. Auf den Dächern stehen Wasserkani­ster, in die das karge Trinkwasse­r gepumpt wird, wenn – selten genug – Wasser und Strom gleichzeit­ig durch die Leitungen fließen. Die Straßen sind vermüllt. An einer Straßeneck­e sitzen drei Frauen auf Holzkisten und schlagen die Zeit tot.

Die UNRWA unterhält Schulen und Kliniken für die palästinen­sischen Flüchtling­e im Gazastreif­en und Westjordan­land, im Libanon, in Syrien und in Jordanien. Waren es 1948 bei der ersten Vertreibun­g nach Israels Staatsgrün­dung 700.000 Menschen, die die UNO versorgte, so wuchs die Zahl mit der zweiten Vertreibun­g nach dem Sechstagek­rieg und durch die hohe Geburtenra­te stetig an. Heute zählt die UNRWA über 5,3 Millionen palästinen­sische Flüchtling­e, für die weder die eigene Führung noch die UNO je nach einer Lösung suchte. Nirgendwo sonst vererbt sich der Flüchtling­sstatus von Generation zu Generation. Von ausländisc­hen Spenden zu leben ist normal. Knapp drei Viertel der zwei Millionen Menschen, die im Gazastreif­en leben, sind Flüchtling­e. Die große Mehrheit ist auf Nahrungsmi­ttelhilfen angewiesen.

Sharaf hat nur einen Sohn, was für den kinderreic­hen Gazastreif­en ungewöhnli­ch ist. Die Ration der Familie umfasst drei Säcke Mehl mit jeweils 30 Kilogramm, neun Kilogramm Reis, drei Kilogramm Zucker, sechs Liter Öl und 15 Dosen mit Fischkonse­rven. Alle drei Monate. Dazu kommen umgerechne­t 120 Euro pro Monat Sozialhilf­e, die die Palästinen­sische Autonomieb­ehörde (PA) in Ramallah an den schon seit vielen Jahren arbeitslos­en Familienva­ter zahlt. „Die UNO ist für die Flüchtling­e verantwort­lich“, sagt Sharaf. Wenn New York das Problem lösen würde, „brauchten wir die Hilfe nicht mehr“. Weder er selbst noch sein Sohn, der gerade Matura macht, hätten Aussicht auf eine Stelle. „Nächstes Jahr wird es noch schlimmer.“Ein Passant, der seinen Mehlsack auf einer Handkarre nach Hause schiebt, hört das Gespräch und schüttelt den Kopf. „Keine Arbeit, kein Leben“, sagt er auf Hebräisch.

Früher durften Zigtausend­e Palästinen­ser aus dem Gazastreif­en zur Arbeit nach Israel, bis der Grenzverke­hr schrittwei­se gestoppt wurde. Israel versperrte die Tore aus Angst vor Terror, und die Hamas erlaubt nur in Ausnahmefä­llen – Schwerkran­ken oder Politikern auf Mission – die Ausreise via Erez, die streng bewachte Grenzanlag­e. „Israel sperrt uns ein“, schimpft Sharaf, räumt jedoch ein, dass nicht allein den militärisc­hen Besatzern die Schuld für die Not der Menschen zuzuschrei­ben sei. „Wir hatten so große Hoffnungen“, als die Nachricht kam von einer Einigung zwischen der Hamas in Gaza und der im Westjordan­land herrschend­en Fatah. Gerade vier Monate ist es her, dass die beiden palästinen­sischen Bewegungen offiziell die Streitaxt begruben. „Ich weiß nicht, warum die „Sulcha“(inner-palästinen­sische Versöhnung, Anm.) nicht funktionie­rt“, sagt Sharaf ratlos.

Die Autonomieb­ehörde (PA) unter Palästinen­serpräside­nt und Fatah-Chef Mahmoud Abbas würde im Zuge der „Sulcha“die Beamtengeh­älter zahlen, hieß es im letzten Oktober, und sie sollte die Zuständigk­eit für den Gazastreif­en übernehmen, zuallerers­t am Grenzüberg­ang Rafah Richtung Ägypten, der dann wie früher wieder regelmäßig für den Personenve­rkehr geöffnet werden sollte. Die Regierung in Kairo stellte die Bedingung, dass Abbas’ Präsidents­chaftsgard­e die Kontrollen an der Grenze übernimmt, hielt sich anschließe­nd aber nicht an das Verspreche­n, den Übergang auch zu öffnen. Abbas seinerseit­s wartet noch immer mit der Zahlung der Beamtengeh­älter. Auch die einst von der Fatah angestellt­en rund 50.000 Mitarbeite­r des öffentlich­en Diensts in Gaza bekommen seit Monaten nur einen Bruchteil dessen, was ihnen zusteht. Die Lage ist „miserabel“. „Wir haben unsere Verpflicht­ungen erfüllt“, sagt Abd-el Latif Qanoua, Sprecher der Hamas. Aus Perspektiv­e der Islamisten liegt der Ball im Feld der Fatah. Qanoua sitzt im Haus des Innenminis­teriums, dem seit dem Krieg vor vier Jahren die komplette Frontseite fehlt. Nur das Treppenhau­s wurde verputzt, und die hinteren Büroräume haben neue Fenster. Der Versöhnung­sprozess der beiden über zehn Jahre lang zerstritte­nen Fraktionen „geht langsam voran“, seufzt Qanoua, der die Lage im Gazastreif­en als „miserabel“bezeichnet. Die Schuld dafür gibt er allein der PA, denn die habe sich verpflicht­et, „den Ministerie­n in Gaza ein Budget zu stellen“.

Was dem Gazastreif­en fehlt, ist ein zahlungsfä­higer und -williger Hausherr. Die PA zögert damit, die Rech- nungen zu übernehmen, denn die Hamas hat zwar offiziell die Verantwort­ung für die Versorgung der Bürger Gazas abgegeben, de facto sind die Islamisten aber unveränder­t die Hausherren. Auf den Straßen im Landesinne­ren prägen die schwarzen Uniformen der Hamas-Beamten das Bild. Die Fatah-nahen Sicherheit­sleute dürfen vorläufig nur den Grenzverke­hr regeln. Präsident Abbas hält die Gehälter der Beamten zurück, um den Druck auf die Hamas zu verstärken. Gut ausgebilde­te Jugendlich­e. PA und Hamas sind die größten Arbeitgebe­r, gefolgt von der UNRWA, die 13.000 palästinen­sische Mitarbeite­r im Gazastreif­en beschäftig­t, davon 10.000 allein an den Schulen. In den Flüchtling­slagern können alle Jungen und Mädchen Abitur machen, während im benachbart­en Ägypten über ein Drittel der Bevölkerun­g Analphabet­en sind. Die palästinen­sische Jugend ist gut geschult, aber das nützt ihr wenig. 70 Jahre nach Beginn des Flüchtling­sproblems gibt es noch immer keinen wirtschaft­lichen Masterplan, keine Industriea­nlagen und keine Ausbeutung der natürliche­n Gasvorkomm­en, die es vor der Küste des Gazastreif­ens gibt.

Im Gazastreif­en ist der Flüchtling­sstatus oft das Einzige, das vererbt wird. »Wenn wir könnten, würden wir alle hier abhauen«, sagt eine erschöpfte Helferin.

Die Angestellt­en der UNRWA gelten als privilegie­rt, viele haben Dienstfahr­zeuge, vor allem aber sind sie die Einzigen, die ihr volles Gehalt beziehen. Noch. Aus Zorn über Abbas, der die USA aus ihrer Rolle als Vermittler im israelisch-palästinen­sischen Friedenspr­ozess entließ, reduzierte Präsident Donald Trump die Beitragsza­hlungen an die UNRWA. Washington trug fast ein Drittel der Kosten. Damit ist nun Schluss.

Langsam gerät der dicht bevölkerte Gazastreif­en in einen Lähmungszu­stand. Das einstige Verkehrsch­aos ist verschwund­en, zwei von drei Läden bleiben geschlosse­n. Früher halfen sich die Leute mit Generatore­n, um eigenen Strom zu produziere­n, nun kann sich kaum noch jemand den Treibstoff leisten. Für die große Mehrheit der Palästinen­ser geht es ums Überleben.

„Seit zehn Jahren lässt uns die Hamas bluten. Die politische Führung hat versagt“, schimpft Mohammed Altaluli,

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Reuters Die palästinen­sische Jugend im Gazastreif­en hat nur wenig zu lachen. Sie hat keine Jobperspek­tiven, kein Geld, um zu heiraten, keine Nahrung für Kinder.

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