»Nächstes Jahr wird es noch schlimmer«
Im Gazastreifen geht die Angst vor einer Hungersnot um. Die Menschen fürchten die Kürzung der US-Beiträge an die Hilfsorganisation UNWRA. Auch das vier Monate alte Abkommen zwischen Fatah und Hamas hält nicht, was es versprochen hat.
Hastig zieht eine verschleierte Frau eine Ölflasche aus der Tasche, ergreift das Geld des Händlers, dreht sich verstohlen um und zieht ihre kleine Tochter weg. Ihre Armut scheint sie zu beschämen, dabei sind hier fast alle arm. Der kleine Markt im Zentrum von Dschabalija im Norden des Gazastreifens ist für viele der einzige Weg, an Bargeld zu gelangen, auch wenn es nur ein paar Schekel sind, die sie für eine Flasche Öl bekommen, eine Dose Sardinen oder was sie sonst entbehren können von den Nahrungsmittelpaketen, die die UNRWA, die UN-Hilfsorganisation für palästinensische Flüchtlinge, an sie verteilt. „Zu wenig, um satt zu werden und zu viel, um zu verhungern“, resümiert Mohammed Sharaf, der nur gekommen ist, um mit den Händlern zu tratschen. „Was wir kriegen, brauchen wir selbst“, sagt der Mittfünfziger über sich und seine Familie. Verkaufen kann er davon nichts.
Das Verwaltungshaus der UNRWA steht im Zentrum der Stadt Dschabalija, im Norden liegt das Flüchtlingslager mit 80.000 Menschen. Genau hier begann vor 30 Jahren die erste Intifada, der Volksaufstand der Palästinenser gegen die israelische Militärbesatzung. Dicht an dicht reihen sich die drei- bis vierstöckigen Häuser. Auf den Dächern stehen Wasserkanister, in die das karge Trinkwasser gepumpt wird, wenn – selten genug – Wasser und Strom gleichzeitig durch die Leitungen fließen. Die Straßen sind vermüllt. An einer Straßenecke sitzen drei Frauen auf Holzkisten und schlagen die Zeit tot.
Die UNRWA unterhält Schulen und Kliniken für die palästinensischen Flüchtlinge im Gazastreifen und Westjordanland, im Libanon, in Syrien und in Jordanien. Waren es 1948 bei der ersten Vertreibung nach Israels Staatsgründung 700.000 Menschen, die die UNO versorgte, so wuchs die Zahl mit der zweiten Vertreibung nach dem Sechstagekrieg und durch die hohe Geburtenrate stetig an. Heute zählt die UNRWA über 5,3 Millionen palästinensische Flüchtlinge, für die weder die eigene Führung noch die UNO je nach einer Lösung suchte. Nirgendwo sonst vererbt sich der Flüchtlingsstatus von Generation zu Generation. Von ausländischen Spenden zu leben ist normal. Knapp drei Viertel der zwei Millionen Menschen, die im Gazastreifen leben, sind Flüchtlinge. Die große Mehrheit ist auf Nahrungsmittelhilfen angewiesen.
Sharaf hat nur einen Sohn, was für den kinderreichen Gazastreifen ungewöhnlich ist. Die Ration der Familie umfasst drei Säcke Mehl mit jeweils 30 Kilogramm, neun Kilogramm Reis, drei Kilogramm Zucker, sechs Liter Öl und 15 Dosen mit Fischkonserven. Alle drei Monate. Dazu kommen umgerechnet 120 Euro pro Monat Sozialhilfe, die die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) in Ramallah an den schon seit vielen Jahren arbeitslosen Familienvater zahlt. „Die UNO ist für die Flüchtlinge verantwortlich“, sagt Sharaf. Wenn New York das Problem lösen würde, „brauchten wir die Hilfe nicht mehr“. Weder er selbst noch sein Sohn, der gerade Matura macht, hätten Aussicht auf eine Stelle. „Nächstes Jahr wird es noch schlimmer.“Ein Passant, der seinen Mehlsack auf einer Handkarre nach Hause schiebt, hört das Gespräch und schüttelt den Kopf. „Keine Arbeit, kein Leben“, sagt er auf Hebräisch.
Früher durften Zigtausende Palästinenser aus dem Gazastreifen zur Arbeit nach Israel, bis der Grenzverkehr schrittweise gestoppt wurde. Israel versperrte die Tore aus Angst vor Terror, und die Hamas erlaubt nur in Ausnahmefällen – Schwerkranken oder Politikern auf Mission – die Ausreise via Erez, die streng bewachte Grenzanlage. „Israel sperrt uns ein“, schimpft Sharaf, räumt jedoch ein, dass nicht allein den militärischen Besatzern die Schuld für die Not der Menschen zuzuschreiben sei. „Wir hatten so große Hoffnungen“, als die Nachricht kam von einer Einigung zwischen der Hamas in Gaza und der im Westjordanland herrschenden Fatah. Gerade vier Monate ist es her, dass die beiden palästinensischen Bewegungen offiziell die Streitaxt begruben. „Ich weiß nicht, warum die „Sulcha“(inner-palästinensische Versöhnung, Anm.) nicht funktioniert“, sagt Sharaf ratlos.
Die Autonomiebehörde (PA) unter Palästinenserpräsident und Fatah-Chef Mahmoud Abbas würde im Zuge der „Sulcha“die Beamtengehälter zahlen, hieß es im letzten Oktober, und sie sollte die Zuständigkeit für den Gazastreifen übernehmen, zuallererst am Grenzübergang Rafah Richtung Ägypten, der dann wie früher wieder regelmäßig für den Personenverkehr geöffnet werden sollte. Die Regierung in Kairo stellte die Bedingung, dass Abbas’ Präsidentschaftsgarde die Kontrollen an der Grenze übernimmt, hielt sich anschließend aber nicht an das Versprechen, den Übergang auch zu öffnen. Abbas seinerseits wartet noch immer mit der Zahlung der Beamtengehälter. Auch die einst von der Fatah angestellten rund 50.000 Mitarbeiter des öffentlichen Diensts in Gaza bekommen seit Monaten nur einen Bruchteil dessen, was ihnen zusteht. Die Lage ist „miserabel“. „Wir haben unsere Verpflichtungen erfüllt“, sagt Abd-el Latif Qanoua, Sprecher der Hamas. Aus Perspektive der Islamisten liegt der Ball im Feld der Fatah. Qanoua sitzt im Haus des Innenministeriums, dem seit dem Krieg vor vier Jahren die komplette Frontseite fehlt. Nur das Treppenhaus wurde verputzt, und die hinteren Büroräume haben neue Fenster. Der Versöhnungsprozess der beiden über zehn Jahre lang zerstrittenen Fraktionen „geht langsam voran“, seufzt Qanoua, der die Lage im Gazastreifen als „miserabel“bezeichnet. Die Schuld dafür gibt er allein der PA, denn die habe sich verpflichtet, „den Ministerien in Gaza ein Budget zu stellen“.
Was dem Gazastreifen fehlt, ist ein zahlungsfähiger und -williger Hausherr. Die PA zögert damit, die Rech- nungen zu übernehmen, denn die Hamas hat zwar offiziell die Verantwortung für die Versorgung der Bürger Gazas abgegeben, de facto sind die Islamisten aber unverändert die Hausherren. Auf den Straßen im Landesinneren prägen die schwarzen Uniformen der Hamas-Beamten das Bild. Die Fatah-nahen Sicherheitsleute dürfen vorläufig nur den Grenzverkehr regeln. Präsident Abbas hält die Gehälter der Beamten zurück, um den Druck auf die Hamas zu verstärken. Gut ausgebildete Jugendliche. PA und Hamas sind die größten Arbeitgeber, gefolgt von der UNRWA, die 13.000 palästinensische Mitarbeiter im Gazastreifen beschäftigt, davon 10.000 allein an den Schulen. In den Flüchtlingslagern können alle Jungen und Mädchen Abitur machen, während im benachbarten Ägypten über ein Drittel der Bevölkerung Analphabeten sind. Die palästinensische Jugend ist gut geschult, aber das nützt ihr wenig. 70 Jahre nach Beginn des Flüchtlingsproblems gibt es noch immer keinen wirtschaftlichen Masterplan, keine Industrieanlagen und keine Ausbeutung der natürlichen Gasvorkommen, die es vor der Küste des Gazastreifens gibt.
Im Gazastreifen ist der Flüchtlingsstatus oft das Einzige, das vererbt wird. »Wenn wir könnten, würden wir alle hier abhauen«, sagt eine erschöpfte Helferin.
Die Angestellten der UNRWA gelten als privilegiert, viele haben Dienstfahrzeuge, vor allem aber sind sie die Einzigen, die ihr volles Gehalt beziehen. Noch. Aus Zorn über Abbas, der die USA aus ihrer Rolle als Vermittler im israelisch-palästinensischen Friedensprozess entließ, reduzierte Präsident Donald Trump die Beitragszahlungen an die UNRWA. Washington trug fast ein Drittel der Kosten. Damit ist nun Schluss.
Langsam gerät der dicht bevölkerte Gazastreifen in einen Lähmungszustand. Das einstige Verkehrschaos ist verschwunden, zwei von drei Läden bleiben geschlossen. Früher halfen sich die Leute mit Generatoren, um eigenen Strom zu produzieren, nun kann sich kaum noch jemand den Treibstoff leisten. Für die große Mehrheit der Palästinenser geht es ums Überleben.
„Seit zehn Jahren lässt uns die Hamas bluten. Die politische Führung hat versagt“, schimpft Mohammed Altaluli,