Die Presse am Sonntag

Das neue Netzwerk der Gülenisten

Seit dem Putschvers­uch in der Türkei sind Tausende Anhänger des islamische­n Predigers Gülen geflohen – auch nach Österreich. Hier wollen sie ihre Version der Geschichte erzählen.

- VON DUYGU ÖZKAN

Ziemlich genau ein Jahr und sieben Monate nach dem blutigen Putschvers­uch in der Türkei riss die Strömung im Grenzfluss Evros/Mariza vor einigen Tagen ein Boot mit und mit ihm eine Türkin sowie ihre beiden Söhne im Alter von drei und elf Jahren. Vermutlich befanden sich mehr Menschen auf dem Boot, der Mann und Vater der ertrunkene­n Familie galt bis zuletzt als vermisst. Von der Frau weiß man, dass sie eine 36-jährige Lehrerin war, kurze Zeit vor ihrer Flucht vom Dienst entlassen wurde, und vermutlich wollte sich die Familie nach der Flucht in Griechenla­nd niederlass­en.

Wenige Tage später erreichte ein Boot die kleine griechisch­e Insel Inousses, unweit von Izmir. 17 türkische Staatsbürg­er, darunter sechs Kinder, stellten sofort nach ihrer Ankunft einen Asylantrag. Im vergangene­n Jahr haben mehr als 1800 türkische Staatsbürg­er Schutz in Griechenla­nd gesucht, das waren zehnmal so viele wie im Jahr davor. Ein Jahr und sieben Monate nach dem Putschvers­uch wird die „Säuberungs­welle“in der Türkei unbeirrt fortgesetz­t, und überpropor­tional oft sind nach wie vor die Anhänger des islamische­n Predigers Fethullah Gülen betroffen; die Regierung sieht ihn als Drahtziehe­r des geplanten Umsturzes. Tausende Anhänger sind in Haft, Tausende haben ihre Arbeit verloren, Ankara hat die Bewegung mit dem Akronym Fetö zur Terrororga­nisation erklärt. Dabei galten die AKP und die islamische Bewegung noch vor wenigen Jahren als unzertrenn­liche Zweckgemei­nschaft, die sich gegenseiti­g in die Höhe hievten. Heute führt das Zerwürfnis zwischen Präsident Recep Tayyip Erdogan˘ und Gülen das ganze Land am Gängelband.

Die Aktivitäte­n der Gülen-Bewegung sind in der Türkei zum Erliegen gekommen, umso aktiver zeigen sich die vielen Dependance­n im (europäisch­en) Ausland: Die gut vernetzte und bislang klandestin agierende GülenBeweg­ung stützt ihre Mitglieder, hilft den Neuankömml­ingen, geht mit ihrem Anliegen offensiv an die Öffentlich­keit.

Als Mustafa (Name von der Redaktion geändert, Anm.) gemeinsam mit seiner Familie vor einigen Monaten in Österreich ankam, hatten einige Helfer schon alles vorbereite­t: Sie wurden vom Flughafen abgeholt, es gab einen Schlafplat­z, man half einander. Mustafa war jahrelang in einem afrikanisc­hen Land als Lehrer tätig, in einer Schule, die der Gülen-Bewegung nahestand. „Meine Eltern waren nicht wirklich religiös“, erzählt er, die Haube fest am Kopf, die Jacke ob des kalten Windes in der Wiener Innenstadt fest zugezogen. Mustafa sagt, er wolle keine Angst haben müssen. Im Gegensatz zu anderen, nach Österreich geflüchtet­en Gülenisten will er sich zwar fotografie­ren lassen, allzu viele Details soll man über sein Leben aber nicht veröffentl­ichen. Er habe Familie in der Türkei. Unterwande­rung. Mustafas Weg in die Gülen-Bewegung gilt als klassisch. In der Südtürkei besuchte er regelmäßig nach dem Schulunter­richt jene Nachhilfez­entren, die der Prediger über Jahrzehnte (auch im Ausland) aufgebaut hat und die als Basis seines Erfolgs gelten. Hier stieß Mustafa auf Bücher, Reden und Schriften Gülens, es fanden Diskussion­sabende meist theologisc­hen Inhalts statt, sogenannte Sohbets. Mustafa blieb in der Bewegung, die sich selbst als Dienst definiert – Dienst für die Gesellscha­ft. Nach dem Studium ging er freiwillig nach Afrika, um dort beim Aufbau der Schulen mitzuwirke­n. Dort lernte er seine Frau kennen, sie haben zwei Kinder. Die Bewegung bedeute für ihn Dialog, sei Botschafte­r für Toleranz und Miteinande­r.

Schlagwört­er, die mit der Außenwirku­ng der Gülenisten nicht korreliere­n. Jahrelang berichtete­n türkische Investigat­ivjournali­sten von straffen internen Hierarchie­n, von Missionstä­tigkeiten, von einem finanzstar­ken Konsortium hinter der Bewegung, von Unterwande­rung. Gegner und Kritiker wurden in den vielen Medien der Bewegung an den Pranger gestellt, Transparen­z war ein Fremdwort .

Gülen-Anhänger wie Mustafa verstehen die Vorwürfe nicht, in vielen Fällen würden da Vorurteile mitspielen. „Wir sind nicht straff organisier­t“, sagt er, „es ist nicht so, dass wir einmal die Woche Befehle bekommen von Gülen. Das gibt es nicht.“

Der Prediger, der auf die 80 zugeht, lebt seit den 1990ern in den USA, von dort aus schickt er weiterhin regelmäßig Videos und Schriften an seine Anhänger auf der ganzen Welt. Mustafa sieht sie sich von Wien aus an, der Stadt, in der er künftig leben will. Wenige Monate nach dem Putschvers­uch haben die türkischen Behörden seinen Reisepass annulliert, erzählt er. Österreich habe er sich ausgesucht, weil es hier keine Flüchtling­slager gebe wie etwa in Deutschlan­d und weil sein kleines Kind in Afrika schwer krank geworden sei. Mit den Medikament­en dort habe das Kind einfach aufgehört zu wachsen.

Wie viele Gülen-Anhänger es gibt, lässt sich kaum sagen. Es gibt keine Mitgliedsc­haft. Zum Putschvers­uch sagt ein Anhänger: »Ich sehe mich nicht als schuldig an.«

Wie viele Anhänger es in Österreich oder weltweit gibt, lässt sich kaum sagen, die Bewegung führt keine Mitglieder­listen und ist auch sonst darauf bedacht, ihr Geflecht nicht nach außen zu tragen. Für die Intranspar­enz machen Gülenisten die türkischen Strukturen verantwort­lich, die jahrelange Repression in dem Land, „in dem Aleviten oder Kommuniste­n lang nicht sagen konnten, wer sie sind“, wie ein ebenfalls nach Wien geflüchtet­er kurdischer Anhänger sagt. Mit diesem Image will die Bewegung in Ländern wie Deutschlan­d und Österreich nun aufräumen. In „Die Gülen-Bewegung“schreibt der deutsche Autor (und Gülenist) Ercan Karakoyun über die Strukturen, kritisiert aber auch die eigenen Fehler. Ihm zufolge wird die Gülen-Bewegung nach der Abnabelung von der Türkei internatio­naler, und damit orientiere sie sich auch weniger an muslimisch­en Werten, sondern an universale­n.

Mustafa hat in Österreich einen Asylantrag gestellt, er und seine Frau warten, besuchen Deutschkur­se, die Kinder kommen in den Kindergart­en. Kürzlich habe ein Gülen-Anhänger in einem anderen Bundesland einen positiven Bescheid erhalten, „das hat uns allen Mut gemacht“. Mit „uns allen“meint Mustafa rund 25 Familien, die seit dem Putschvers­uch nach Österreich geflohen sind, entweder aus der Türkei oder aus dem Ausland, wo sie für Gülen-Institutio­nen tätig waren. Kürzlich gründeten sie die lose Plattform „Grüß Gott Österreich“, mittels derer sie eifrig in sozialen Medien und über Veranstalt­ungen auf die Bewegung aufmerksam machen wollen, auf das Schicksal der Gülen-Anhänger in der Türkei, und eine Verbindung zu den Behörden in Österreich herstellen wollen. Man wolle sich so schnell wie möglich integriere­n, versichern sie. Schwager im Gefängnis. „Alle haben Erdogan˘ unterstütz­t“, sagt der kurdische Gülenist, der ebenfalls seit einigen Monaten in Österreich lebt und zuvor in Südostasie­n tätig war, „aber uns hält man das jetzt vor. Dieselbe Frage müsste man der EU, den USA ebenfalls stellen.“Einen Druck, in der Öffentlich­keit für die AKP zu lobbyieren, gab es nicht, sagt er – er habe früher freiwillig für die Regierungs­partei gestimmt. Heute seien zwei seiner Schwager im Gefängnis.

„Ich sehe mich nicht als schuldig an. Wer auch immer hinter dem Putsch steckt, soll zur Verantwort­ung gezogen werden.“Dass die Jagd auf Gülenisten zu einem baldigen Ende kommen wird, glaubt auch in Österreich niemand. Erst vor wenigen Wochen hat Ankara den Ausnahmezu­stand erneut verlängert. Und seit dem Putschvers­uch verlangt die türkische Regierung mit Nachdruck die Auslieferu­ng von Gülen-Anhängern, die sich ins Ausland abgesetzt haben.

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