Kampf gegen die Verhexung des Verstandes
Ludwig Wittgenstein, einer der bedeutendsten Denker des 20. Jahrhunderts, will gegen die Grenze der Sprache anrennen. Und verstört seine Kollegen mit Zitaten wie: »Die Philosophie bietet keine Bilder der Wirklichkeit.« Er bleibt ein ewiger Zweifler, strei
Mit einem glühenden Feuerhaken soll – laut den BBC- Journalisten David Edmonds und John Eidinow – der störrische Philosoph Ludwig Wittgenstein seinen Kollegen Karl Popper, der seiner Meinung nach eine schwachsinnige These aufgestellt hatte, bedroht haben. Tatzeit der Kriminalgeschichte unter Denkern, die zu den größten des 20. Jahrhunderts gehören: 25. Oktober 1946. Tatort: Cambridge, King’s College. Tatzeugen: mehrere fassungslose Philosophen, darunter Wittgensteins Mentor Bertrand Russell, bei dem er 33 Jahre zuvor Logik und Philosophie studiert hat.
Nicht nur ein Feuerhaken als Argument, auch Behauptungen wie „Das Ziel der Philosophie ist es, der Fliege den Ausweg aus dem Fliegenglas zu zeigen“verstören manche von Witt- Michael Horowitz gensteins Freunden. Auch mit seinem gern verwendeten Nestroy-Zitat „Überhaupt hat der Fortschritt das an sich, dass er viel größer ausschaut, als er wirklich ist“reißt der Wiener Wittgenstein weltweit seine Kollegen aus ihrer gewohnten Denkperspektive heraus. Und manche Verfechter der konkreten Philosophie, wie der Hohepriester der 1968er-Studentenbewegung Herbert Marcuse, bezeichnen den originären Denker, der gern plumpe Detektivgeschichten liest, als Zerstörer der Philosophie.
Der exzentrische Individualist Wittgenstein versteht sich auf das Staunen wie kaum ein anderer Denker. Operationsfeld seiner verblüffenden Beobachtungen ist die Sprache, auch die des Alltags. Er stutzt bei Sätzen wie „Diese Vorrichtung ist eine Bremse, funktioniert aber nicht.“Solche Sätze kritzelt er in ein Notizbuch und notiert Reflexionen. Wie besessen diktiert er die Eintragungen in die Schreibmaschine, manchmal sieben Stunden lang ohne Pause.
Wittgenstein hat die Philosophie auf eine neue Basis gestellt, auf die Analyse der Sprache. Die Grenzen seiner Sprache bedeuten für ihn die Grenzen seiner Welt. Das Philosophieren diene nur dazu festzustellen, dass sich alle Denkbemühungen in den Regeln der Sprache verfangen. In seinem ersten Hauptwerk „Tractatus“, an dem er während des Ersten Weltkriegs schreibt – bereits am Tag nach Österreichs Kriegserklärung an Russland rückt er als 25-Jähriger bei einem Artillerieregiment in der Nähe von Krakau ein –, versucht er, die Unzulänglichkeiten der traditionellen Logik nachzuweisen. Rigoros und kompromisslos, voller Feuer und Hingabe.
Wittgenstein gilt als sprachgewandter Philosoph der Sprachlosigkeit, der lieber mit Kühen und Schafen als mit Menschen spricht. Er meint: „Die Philosophie ist ein Kampf gegen die Verhexung unseres Verstandes durch die Mittel unserer Sprache.“Seine Meinung ist immer autoritär, nie zögert er, aus seinen Schlussfolgerungen Konsequenzen zu ziehen. Er wendet sich von der Philosophie ab, deren „Ergebnisse die Entdeckung irgendeines schlichten Unsinns und Beulen sind, die sich der Verstand beim Anrennen an die Grenze der Sprache geholt hat. Sie, die Beulen, lassen uns den Wert jener Entdeckung erkennen.“
1889 wird Ludwig Josef Johann in Wien als jüngstes von acht Geschwistern einer der mächtigsten österreichischen Industriellenfamilien geboren. Drei seiner Brüder enden durch Selbsttötung. Der Salon der Familie Wittgenstein spielt im kulturellen Leben der Stadt eine bedeutende Rolle. Johannes Brahms zählt zu den engsten Freunden der Familie. Maurice Ravel schreibt für einen Bruder Ludwigs, den Pianisten Paul, der im Ersten Weltkrieg den rechten Arm verloren hat, sein berühmtes „D-Dur Klavierkonzert für die linke Hand“. Aeronautsche Experimente. Ludwig bekommt Privatunterricht und besucht danach die Realschule in Linz – zwei Schulstufen unter ihm sitzt Adolf Hitler. Nach einem Maschinenbaustudium in Berlin studiert er in Manchester weiter, wo er aeronautische Experimente betreibt: Er macht Versuche mit Flugdrachen, widmet sich dem Antrieb von Flugzeugen, bei dem ihn vor allem die Mathematik fasziniert. 1911 geht er nach Cambridge, um bei Bertrand Russell, der bereits acht Jahre zuvor seine „Grundlagen der Mathematik“veröffentlicht hat, zu studieren.
Zwei Jahre lernt er bei Russell, der ihm bald freundschaftlich verbunden ist, und genießt von Anfang an höchstes Ansehen: Der Ökonom Keynes meint „Gott ist angekommen. Ich traf ihn im Fünf-Uhr-fünfzehn-Zug.“Nach zwei Jahren in Cambridge zieht sich Wittgenstein in den Südwesten Norwegens zurück.
Hier gibt sich der hochsensible, selbstquälerische Grübler in der magischen Fjordlandschaft völlig zurückge- Geburt am 26. April in Wien. Hauptwerk. „Tractatus logicophilosophicus“. Tod. Cambridge am 29. April. posthum veröffentlicht: Philosophische Untersuchungen. Weltdokumentenerbe. Eintrag zum Erhalt für die Menschheit. zogen philosophischer Meditation hin. In einem spartanischen, selbst geplanten Blockhaus über dem See Eidsvatnet vis-a-`vis von einem 300-Seelen-Dorf bleibt er bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Nur einmal pro Woche rudert er in seinem Boot ans andere Ufer, um Lebensmittel zu besorgen. Das Haus des sonderbaren Gasts nennen die Einheimischen Østerrike, Österreich.
Nach Ende des Kriegs verschenkt der Millionenerbe – unter dem Eindruck des Spätwerks von Leo Tolstoi – sein gesamtes Vermögen. Allerdings an seine reichen Geschwister. Er meint, Arme würden durch unverhofften Reichtum korrumpiert werden . . .
Von jetzt an lebt er ohne jedes Attribut der ihm widerwärtigen Wohlsituierten, ohne den Glanz des Bürgertums, ohne Hut und Krawatte. Er arbeitet als Volksschullehrer in einem ärmlichen Nest in Niederösterreich, in Trattenbach. Die Bevölkerung ist verzweifelt, als die Dampfmaschine ihrer Tuchfabrik den Geist aufgibt. Doch der Lehrer, eigentlich ein reicher Baron, hämmert ein paarmal auf dem defekten Kolben herum und „befreit die Maschine von ihrer Krankheit“.
Niemand im Dorf kann damals Ende 1920 ahnen, dass der Sohn eines Stahlmagnaten bald einiges andere in Gang setzen wird als Dampfmaschinen. Nach mehreren Zwischenfällen – man spricht von Watschen und Wutausbrüchen – muss er den Schuldienst beenden. Er arbeitet als Laborant, Krankenpfleger und Gärtner in einem Kloster. Danach widmet sich Ludwig der Architektur und baut für seine Schwester Margarete einen strengen, kühlen Betonbau, für Licht sorgen nackte Glühbirnen: Ornamente seien Verbrechen, so hat er es von seinem Vorbild Adolf Loos gelernt.
Reinheit war buchstäblich Wittgensteins Hauptziel – vom Tick, nasse Teeblätter fürs Staubwischen zu verwenden, bis zum Verzicht auf das gigantische Erbe seines Vaters. 1939 wird er in Cambridge auf einen der berühmtesten philosophischen Lehrstühle berufen.
Als ihm 1951 der Arzt mitteilt, er habe wegen seiner Krebserkrankung nur mehr wenige Tage zu leben, meint Ludwig Wittgenstein, der immer wieder unter Depressionen gelitten hat, man möge seinen Freunden ausrichten: „Mein Leben war wunderbar.“
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Wittgenstein gilt als sprachgewandter Philosoph der Sprachlosigkeit. Der hochsensible Grübler gibt sich in der Fjordlandschaft philosophischer Meditation hin.