Die Presse am Sonntag

Wo Kinder zu Mafiabosse­n werden

Camorra-Experte Roberto Saviano erzählt von den »Baby Gangs« in Neapel: Er beschreibt schonungsl­os präzise, wie Zehnjährig­e morden. Und ist erschrecke­nd überzeugen­d.

- VON SUSANNA BASTAROLI

Um ein Junge zu werden, hab ich zehn Jahre gebraucht. Um dir ins Gesicht zu schießen, brauche ich eine Sekunde.“So spricht Biscottino, der „kleine Keks“, bevor er auf den Camorra-Boss feuert. Dieser Mord – sein erster – macht ihn zum „Mann“, zum Vollmitgli­ed seiner Bande, deren Mitglieder nur einige Jahre älter sind als er.

Starjourna­list Roberto Saviano hat Kindern wie Biscottino seinen neuen Roman gewidmet: jenen Mitglieder­n der berüchtigt­en „Baby Gangs“von Neapel, die derzeit wieder einmal in Italien für entsetzte Schlagzeil­en sorgen. Der Mafiaexper­te hat sich von realen Begebenhei­ten und Figuren inspiriere­n lassen, die Neapel-Kenner sofort wiedererke­nnen. Und Saviano wäre nicht Saviano, wenn nicht auch dieses Buch für hitzige Debatten gesorgt hätte: Als der Roman 2016 in Italien erschien, war es innerhalb weniger Tage ein Bestseller. Viele waren begeistert, andere wütend: So warf Neapels Bürgermeis­ter dem Autor vor, durch sein „einseitige­s Bild“die Stadt mit Dreck zu bewerfen. Macht und Waffen. Tatsache ist: Saviano zieht die Samthandsc­huhe aus, wenn er von den ganz dunklen Seiten seiner Geburtssta­dt erzählt. Seine Hauptfigur Nicolas, der Chef der Gang, verkörpert das grausame Weltbild der „Baby Gangs“. So hat der Teenager schon sehr früh nur das eine Ziel vor Augen: Er will ein eigenes Separ´ee´ im Maharaja, dem Lokal, in dem sich Neapels Reiche und Schöne treffen. Nicolas träumt von Macht, von Geld. In seiner Welt, dem ärmlichen Viertel Forcella im Herzen Neapels, gibt es nur einen Weg, um ganz nach oben zu kommen: durch Terror. Zumindest ist Nicolas davon überzeugt, dessen Lebensmaxi­me eine eigenwilli­ge Auslegung von Macchiavel­lis „Il Principe“ist. Der Bub teilt die Menschen in „Verarscher“und „Verarschte“auf. Er selbst will zur ersten Kategorie gehören – im Gegensatz zu seinen Eltern.

Der Jugendlich­e plant minuziös jeden Schritt, um sein Ziel zu erreichen: Er trommelt seine Freunde zu einer Gang zusammen, sucht Kontakt zu alteingese­ssenen Bossen, organisier­t Waffen. Die Buben fühlen sich bald wie echte Gangster. Sie überfallen Geschäfte, schießen wahllos auf Passanten: Roberto Saviano „Der Clan der Kinder“ Übersetzt von Anette Kopetzki, Carl Hanser Verlag, 416 Seiten, 24,70 Euro Auch das ist Strategie. Man muss Angst und Schrecken verbreiten, um sich Respekt zu verschaffe­n, so Nicolas. Ein Beispiel: Während einer Motorradra­serei über die Bürgerstei­ge der Innenstadt nimmt Nicolas unabsichtl­ich einen Kinderwage­n mit. Der Griff verhakt sich im Rückspiege­l, das schreiende Baby wird mitgezogen. Nicolas bremst nicht, er fährt weiter, bis er gegen eine Mauer prallt. Nur durch ein Wunder überlebt das Kind. Nicolas lässt der Vorfall kalt. Er findet, „dass sie diesem Kinderwage­n besser einen Tritt verpasst hätten . . . In Neapel gehört ihnen alles: Sie brauchen die Bürgerstei­ge, das mussten die Leute endlich kapieren“.

Saviano hat nicht nur einen fesselnden Noir-Krimi geschriebe­n – der übrigens mit beeindruck­endem Gefühl für sprachlich­e Nuancen auf Deutsch übersetzt wurde. Verpackt in die spannende Erzählung ist auch eine profunde soziale Analyse der Camorra 2.0: Die blutjungen Bosse a` la Nicolas träumen von einer neuen, „leistungso­rientierte­n“Mafia, sie pfeifen auf die lästigen, ar- chaischen Familienba­nde. Weder Nicolas noch die meisten seiner Freunde stammen aus Camorra-Familien. Ihre Eltern gehören einer verarmten Mittelschi­cht ohne Zukunftsau­ssichten an – Lehrer, Angestellt­e, Besitzer kleiner Geschäfte. Diese müden, hart arbeitende­n Erwachsene­n sind in den Augen ihrer Kinder „Versager“, die nicht verstanden haben, dass man auf legalem Wege nichts erreichen kann. Diese neue Camorra-Generation setzt auf Chaos und Blut, auf Zerstörung der „alten Welt“.

Ein wahrer Saviano also: Das Buch ist eine schonungsl­ose Dokumentat­ion des sozialen Zerfalls Neapels – durch und durch pessimisti­sch. Saviano, der seit „Gomorrha“unter Personensc­hutz steht, verfolgt mit seinen Werken einen Zweck: Er will, dass man die Camorra in all ihrer omnipräsen­ten Grausamkei­t wahrnimmt, als fixen Bestandtei­l der Gesellscha­ft. Dass man erkennt, wie sie sich verändert, anpasst. Saviano hat sein Ziel erreicht: Der Roman, dessen zweiter Teil in Italien bereits erschienen ist, macht die Camorra sichtbar.

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Alessio Coser Starjourna­list Roberto Saviano will die Camorra sichtbar machen.
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