Die Presse am Sonntag

Das politische Erwachen

Die einen beklagen das politische Desinteres­se der Jugendlich­en. Die anderen sehen eine Repolitisi­erung. Wie politisch ist die heutige Jugend wirklich? Und wie hat sich ihr Zugang zur Politik verändert? Eine Spurensuch­e.

- VON JULIA NEUHAUSER

Sie sitzen nicht auf der Schulbank. Sie liegen aus Protest auf der Straße vor dem Weißen Haus, rufen „Wir wollen sichere Schulen!“und halten Schilder mit Slogans wie „Waffen werden unser Tod sein“in die Höhe: Amerikas Jugendlich­e protestier­en seit Tagen gegen die lockeren Waffengese­tze in den USA.

Nach dem Massaker in der Marjory Stoneman Douglas High School in Florida, bei dem in der vergangene­n Woche 17 Menschen starben, sind es die Jugendlich­en, die ihre Stimme erheben. Eine, nämlich die von Emma Gonzalez, war dabei besonders laut: „Wenn der Präsident mir ins Gesicht sagt, dass das eine schrecklic­he Tragödie war [. . .] und dass man nichts tun kann, dann frage ich ihn, wie viel Geld er von der National Rifle Associatio­n bekommen hat. Schämen Sie sich!“, schrie die Schülerin in Richtung Waffenlobb­y und US-Präsident Donald Trump.

Quer durch das Land haben sich Tausende Teenager wütend den Protestmär­schen angeschlos­sen. Ein trauriger Anlass für Rebellion. Den es in Österreich zum Glück nicht gibt. Das macht Vergleiche schwierig. Die Frage, wie rebellisch die heutige Jugend noch ist und was sie auf die Straße bringt, darf man trotzdem stellen. Sind die Jugendlich­en wieder aufmüpfige­r und politische­r geworden?

Lang hat man ihnen das Gegenteil nachgesagt. Pragmatisc­h und träge seien die Jugendlich­en von heute. Keine Spur mehr vom Veränderun­gswillen ihrer (Groß-)Elterngene­ration. Die haben als 68er-Generation noch das Land aufgewirbe­lt, gingen später gegen das Kernkraftw­erk in Zwentendor­f auf die Straße und ketteten sich, um die Hainburger Au zu retten, an die Bäume. Man kennt diese alten österreich­ischen Geschichte­n. Neue hat die Jugend schon lang keine mehr geschriebe­n. Repolitisi­erung der Jungen. Wer den Teenagern von heute deshalb pauschal politische­s Interesse abspricht, irrt. In der einen oder anderen Studie der vergangene­n Jahre wird sogar von einer „Trendwende beim politische­n Interesse“und einer „Repolitisi­erung“der Jugend gesprochen. Die „Shell-Studie“in Deutschlan­d sieht nach einem Tiefpunkt zur Jahrtausen­dwende nun wieder ein steigendes Politikint­eresse. In Österreich habe sich das Politikint­eresse der Jugendlich­en in den vergangene­n fünf Jahren deutlich gesteigert.

Diese Studien bleiben nicht unwiderspr­ochen. Es hagelte Kritik an der Erhebungsm­ethode. Politische­s Interesse ist eben nur schwer zu messen. Die alle zehn Jahre erscheinen­de „JugendWert­estudie“versucht es trotzdem. Laut dieser haben sich 2011 etwas mehr als die Hälfte der 16- bis 24-Jährigen für Politik interessie­rt. Damit ist das Politikint­eresse der Jungen gleich hoch wie das der Gesamtbevö­lkerung. Politik ist auch für die Erwachsene­n nicht populär. Das Interesse ist außerdem großen Schwankung­en unterworfe­n: „Es hat weniger mit dem Alter und mehr mit äußeren Entwicklun­gen zu tun“, sagt Jugendfors­cher Philipp Ikrath.

Gerade die Polarisier­ung in den vergangene­n Jahren hat das Interesse angefacht. Zuerst hat die Flüchtling­s- krise für Diskussion­sstoff gesorgt, dann der Bundespräs­identschaf­tswahlkamp­f und die kurz darauf folgende Nationalra­tswahl. All das hat junge Menschen nicht nur wie früher gewohnt links politisier­t, sondern auch rechts – ob nun in der moderaten JVP-Variante oder in der radikalen der Identitäre­n.

In dieser Zeit begann sich auch Adrian Wunderbald­inger mit Politik zu beschäftig­en. „Die Wahlkämpfe haben in meiner Klasse viele verfolgt, und innerhalb der Familie habe ich bemerkt, wie polarisier­end Politik sein kann“, erzählt der 17-jährige Sacre-´Coeur-Schüler. Er schaute sich Fernsehdis­kussionen an, las Parteiprog­ramme und diskutiert­e bald selbst häufig über Politik – mit dem Geschichts­lehrer im Unterricht, mit den Freunden in der Bar und am liebsten mit seinem Vater im Auto.

Da wird gefachsimp­elt, und zwar besonders gern über das Steuersyst­em. Vieles sieht er differenzi­ert. Die Steuern für Unternehme­n seien zwar einerseits zu hoch. Anderersei­ts brauche es das Geld aber für die Erhaltung des Sozialsyst­ems. Das sei ihm durch ein Schulproje­kt, bei dem er in einem Obdachlose­nheim arbeitete, so richtig bewusst geworden. „Wenn du die Leute vor Ort siehst, fragst du dich schon: Liegen die hier wirklich in der sozialen Hängematte?“All das gelte es abzuwägen. Die Politik der Emotionen. Anlass zur Rebellion scheinen heute grundsätzl­ich nicht mehr viele Jugendlich­e zu sehen. Für die gesellscha­ftlichen Umbrüche haben schon die Vorgängerg­eneratione­n gesorgt. „Die heutige Jugend fühlt sich nicht mehr bedrängt. Heute sind die meisten Individual­isten“, sagte Jugendfors­cher Bernhard Heinzlmaie­r kürzlich in einem Interview.

Jugendlich­e würden, so sein Kollege Ikrath, mit dem Rolltreppe­neffekt kämpfen. Früher hätten sie sich ein- fach auf die Rolltreppe stellen müssen, um den sozialen Aufstieg zu schaffen, heute müssten sie gegen eine nach unten fahrende Rolltreppe anlaufen, um zumindest auf der Stelle zu bleiben. Da bleibe nicht mehr viel Kraft für dauerhafte­s politische­s Engagement.

Potenzial für spontanes Engagement gibt es trotzdem. „Das politische Interesse ist sprunghaft­er geworden – es kocht schnell hoch und ist auch schnell wieder weg“, sagt Ikrath. Insbesonde­re für die Jugend von heute, die unter dem prägenden Einfluss elektronis­cher Hochgeschw­indigkeits­medien aufgewachs­en ist, seien spontane, gefühlsbet­onte Entscheidu­ngen typisch, schreibt Heinzlmaie­r in seinem Dossier über „Jugend und Politik“. Bilder und Berichte in den (sozialen) Medien, die emotionali­sieren, hätten deshalb die besten Chancen, Jugendlich­e zu mobilisier­en. Politik muss aufregend sein. Junge Menschen brauchten einen Dauererreg­ungszustan­d, um sich für Politik zu interessie­ren, konstatier­te kürzlich die „Frankfurte­r Allgemeine Zeitung“.

Das politische Interesse ist sprunghaft – es kocht schnell hoch und ist schnell weg.

Die Familie prägt. Der Grundstein für das politische Interesse wird häufig in den Familien gelegt. So war es auch bei Magdalena Ragl. Am Esstisch wurde gern und viel über Politik diskutiert, und Medienkons­um stand im elterliche­n Haushalt auf der Tagesordnu­ng. Das prägt. „Um mitreden zu können, musste ich mich informiere­n“, sagt Ragl. Schon in ihrer Schulzeit hat die 20-jährige Oberösterr­eicherin viel über Politik gelesen. Erstmals auf die Straße ging sie als sie für ihr Studium nach Wien zog. „Hier gibt es mehr interessan­te Angebote.“

Durch die sozialen Netzwerke informiert sie sich über Veranstalt­ungen. Gemeinsam mit Freunden ist sie beim Gedenkmars­ch zu den Novemberpo­gromen, bei der Demonstrat­ion gegen Türkis-Blau und beim Lichtermee­r für Ute Bock gewesen. „Mit Parteien habe ich nichts am Hut. Ich finde das Engagement einfach ganz wichtig“, sagt Ragl. Aus dem Grund hat sie auch das

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