Das politische Erwachen
Die einen beklagen das politische Desinteresse der Jugendlichen. Die anderen sehen eine Repolitisierung. Wie politisch ist die heutige Jugend wirklich? Und wie hat sich ihr Zugang zur Politik verändert? Eine Spurensuche.
Sie sitzen nicht auf der Schulbank. Sie liegen aus Protest auf der Straße vor dem Weißen Haus, rufen „Wir wollen sichere Schulen!“und halten Schilder mit Slogans wie „Waffen werden unser Tod sein“in die Höhe: Amerikas Jugendliche protestieren seit Tagen gegen die lockeren Waffengesetze in den USA.
Nach dem Massaker in der Marjory Stoneman Douglas High School in Florida, bei dem in der vergangenen Woche 17 Menschen starben, sind es die Jugendlichen, die ihre Stimme erheben. Eine, nämlich die von Emma Gonzalez, war dabei besonders laut: „Wenn der Präsident mir ins Gesicht sagt, dass das eine schreckliche Tragödie war [. . .] und dass man nichts tun kann, dann frage ich ihn, wie viel Geld er von der National Rifle Association bekommen hat. Schämen Sie sich!“, schrie die Schülerin in Richtung Waffenlobby und US-Präsident Donald Trump.
Quer durch das Land haben sich Tausende Teenager wütend den Protestmärschen angeschlossen. Ein trauriger Anlass für Rebellion. Den es in Österreich zum Glück nicht gibt. Das macht Vergleiche schwierig. Die Frage, wie rebellisch die heutige Jugend noch ist und was sie auf die Straße bringt, darf man trotzdem stellen. Sind die Jugendlichen wieder aufmüpfiger und politischer geworden?
Lang hat man ihnen das Gegenteil nachgesagt. Pragmatisch und träge seien die Jugendlichen von heute. Keine Spur mehr vom Veränderungswillen ihrer (Groß-)Elterngeneration. Die haben als 68er-Generation noch das Land aufgewirbelt, gingen später gegen das Kernkraftwerk in Zwentendorf auf die Straße und ketteten sich, um die Hainburger Au zu retten, an die Bäume. Man kennt diese alten österreichischen Geschichten. Neue hat die Jugend schon lang keine mehr geschrieben. Repolitisierung der Jungen. Wer den Teenagern von heute deshalb pauschal politisches Interesse abspricht, irrt. In der einen oder anderen Studie der vergangenen Jahre wird sogar von einer „Trendwende beim politischen Interesse“und einer „Repolitisierung“der Jugend gesprochen. Die „Shell-Studie“in Deutschland sieht nach einem Tiefpunkt zur Jahrtausendwende nun wieder ein steigendes Politikinteresse. In Österreich habe sich das Politikinteresse der Jugendlichen in den vergangenen fünf Jahren deutlich gesteigert.
Diese Studien bleiben nicht unwidersprochen. Es hagelte Kritik an der Erhebungsmethode. Politisches Interesse ist eben nur schwer zu messen. Die alle zehn Jahre erscheinende „JugendWertestudie“versucht es trotzdem. Laut dieser haben sich 2011 etwas mehr als die Hälfte der 16- bis 24-Jährigen für Politik interessiert. Damit ist das Politikinteresse der Jungen gleich hoch wie das der Gesamtbevölkerung. Politik ist auch für die Erwachsenen nicht populär. Das Interesse ist außerdem großen Schwankungen unterworfen: „Es hat weniger mit dem Alter und mehr mit äußeren Entwicklungen zu tun“, sagt Jugendforscher Philipp Ikrath.
Gerade die Polarisierung in den vergangenen Jahren hat das Interesse angefacht. Zuerst hat die Flüchtlings- krise für Diskussionsstoff gesorgt, dann der Bundespräsidentschaftswahlkampf und die kurz darauf folgende Nationalratswahl. All das hat junge Menschen nicht nur wie früher gewohnt links politisiert, sondern auch rechts – ob nun in der moderaten JVP-Variante oder in der radikalen der Identitären.
In dieser Zeit begann sich auch Adrian Wunderbaldinger mit Politik zu beschäftigen. „Die Wahlkämpfe haben in meiner Klasse viele verfolgt, und innerhalb der Familie habe ich bemerkt, wie polarisierend Politik sein kann“, erzählt der 17-jährige Sacre-´Coeur-Schüler. Er schaute sich Fernsehdiskussionen an, las Parteiprogramme und diskutierte bald selbst häufig über Politik – mit dem Geschichtslehrer im Unterricht, mit den Freunden in der Bar und am liebsten mit seinem Vater im Auto.
Da wird gefachsimpelt, und zwar besonders gern über das Steuersystem. Vieles sieht er differenziert. Die Steuern für Unternehmen seien zwar einerseits zu hoch. Andererseits brauche es das Geld aber für die Erhaltung des Sozialsystems. Das sei ihm durch ein Schulprojekt, bei dem er in einem Obdachlosenheim arbeitete, so richtig bewusst geworden. „Wenn du die Leute vor Ort siehst, fragst du dich schon: Liegen die hier wirklich in der sozialen Hängematte?“All das gelte es abzuwägen. Die Politik der Emotionen. Anlass zur Rebellion scheinen heute grundsätzlich nicht mehr viele Jugendliche zu sehen. Für die gesellschaftlichen Umbrüche haben schon die Vorgängergenerationen gesorgt. „Die heutige Jugend fühlt sich nicht mehr bedrängt. Heute sind die meisten Individualisten“, sagte Jugendforscher Bernhard Heinzlmaier kürzlich in einem Interview.
Jugendliche würden, so sein Kollege Ikrath, mit dem Rolltreppeneffekt kämpfen. Früher hätten sie sich ein- fach auf die Rolltreppe stellen müssen, um den sozialen Aufstieg zu schaffen, heute müssten sie gegen eine nach unten fahrende Rolltreppe anlaufen, um zumindest auf der Stelle zu bleiben. Da bleibe nicht mehr viel Kraft für dauerhaftes politisches Engagement.
Potenzial für spontanes Engagement gibt es trotzdem. „Das politische Interesse ist sprunghafter geworden – es kocht schnell hoch und ist auch schnell wieder weg“, sagt Ikrath. Insbesondere für die Jugend von heute, die unter dem prägenden Einfluss elektronischer Hochgeschwindigkeitsmedien aufgewachsen ist, seien spontane, gefühlsbetonte Entscheidungen typisch, schreibt Heinzlmaier in seinem Dossier über „Jugend und Politik“. Bilder und Berichte in den (sozialen) Medien, die emotionalisieren, hätten deshalb die besten Chancen, Jugendliche zu mobilisieren. Politik muss aufregend sein. Junge Menschen brauchten einen Dauererregungszustand, um sich für Politik zu interessieren, konstatierte kürzlich die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“.
Das politische Interesse ist sprunghaft – es kocht schnell hoch und ist schnell weg.
Die Familie prägt. Der Grundstein für das politische Interesse wird häufig in den Familien gelegt. So war es auch bei Magdalena Ragl. Am Esstisch wurde gern und viel über Politik diskutiert, und Medienkonsum stand im elterlichen Haushalt auf der Tagesordnung. Das prägt. „Um mitreden zu können, musste ich mich informieren“, sagt Ragl. Schon in ihrer Schulzeit hat die 20-jährige Oberösterreicherin viel über Politik gelesen. Erstmals auf die Straße ging sie als sie für ihr Studium nach Wien zog. „Hier gibt es mehr interessante Angebote.“
Durch die sozialen Netzwerke informiert sie sich über Veranstaltungen. Gemeinsam mit Freunden ist sie beim Gedenkmarsch zu den Novemberpogromen, bei der Demonstration gegen Türkis-Blau und beim Lichtermeer für Ute Bock gewesen. „Mit Parteien habe ich nichts am Hut. Ich finde das Engagement einfach ganz wichtig“, sagt Ragl. Aus dem Grund hat sie auch das