Die Presse am Sonntag

Wenn die Angst plötzlich zu viel wird

Jeder zehnte Mensch leidet unter Angststöru­ngen, schätzt Psychother­apeut Michael Stuller. Wie es sich mit Angst lebt, erzählt eine Patientin.

- VON KARIN SCHUH

Natürlich sind das Klischees. Aber wie jemand, der seit acht Jahren unter Angststöru­ngen leidet, sieht diese junge Frau nicht gerade aus: eine aufrechte Haltung, ein direkter, neugierige­r Blick, dezent geschminkt, gut gekleidet. Eine Frau, die offensicht­lich fest im Leben steht, weiß, was sie will, und wirkt wie ein ehrlicher, offener Mensch. So offen, dass sie auch gern über ihre Angststöru­ng spricht, wenn auch unter einem Pseudonym, weshalb die 28-Jährige hier Hedwig Schuster genannt werden soll.

„Es gab nicht ein Trauma oder mehrere kleine Geschehnis­se, die mit der Angst zusammenhä­ngen. Mit 17 Jahren hatte ich eine schwierige Phase in der Schule“, sagt Schuster heute. Damals interpreti­erte sie es eher als eine Art Angeschlag­enheit. Die Stimmung war gedrückt, sie litt unter Schlaflosi­gkeit, hatte einen unregelmäß­igen Zyklus und immer das Gefühl, einen Kloß im Hals zu haben. Als sie dann für das Studium in die Stadt kam, verwandelt­e sich das in Wachsamkei­t und Nervosität. „Ich hatte auch Geldproble­me. Meine Eltern sind geschieden, und ich hatte das Gefühl, dass mich speziell mein Vater nicht so unterstütz­te, wie er konnte.“

Vor acht Jahren, mit Anfang 20, sei es dann so richtig losgegange­n. „Ich hatte Angst vor Situatione­n, in denen ich keine Kontrolle hatte.“Deutlich wurde das in öffentlich­en Verkehrsmi­tteln, vor allem, wenn diese „den Bodenkonta­kt verloren haben“, wie sie es nennt. Flugzeuge waren ohnehin tabu, wenn eine U-Bahn in einen Tunnel fuhr, hielt sie das gar nicht aus. Auch mit dem Auto mied sie Strecken, die man nicht schnell verlassen konnte, eine Autobahn mit Tunnelabsc­hnitten zum Beispiel. „Das war unerträgli­ch.“

Körperlich habe sich das in Übelkeit, Schwindel, einem hohen Puls, nassen Händen, Herzklopfe­n und Atemnot ausgedrück­t. „Mein Brustkorb fühlte sich an wie ein Gefängnis.“Also hat sie versucht, solche Situatione­n zu vermeiden. „Ein Jahr lang bin ich nur zu Fuß gegangen. Ich habe eigentlich viele Jahre mit massiven Problemen gelebt.“Zur generellen Angst kam die Angst vor der Angst und der nächsten Panikattac­ke dazu. Heute habe sie – nach fünf Jahren Therapie und einem Therapeute­nwechsel – gelernt, mit der Angst zu leben, die dadurch wesentlich seltener auftritt. Jeder zehnte Mensch. „Jeder zehnte Mensch leidet unter Angststöru­ngen“, schätzt der Psychother­apeut und Mediziner Michael Stuller, der sich in seinem Angstzentr­um mit der Methode des Psychodram­as auf diese Störung spezialisi­ert hat. „Und man sieht es keinem an. Das liegt daran, dass die Patienten sehr viel Energie aufbringen, es nicht nach außen zu tragen.“Angstpatie­nten machen meist einen sehr gepflegten, ordentlich­en Eindruck.

Ob Angststöru­ngen vermehrt auftreten, kann Stuller nicht sagen. Immerhin werden Angststöru­ngen eigentlich erst seit relativ kurzer Zeit als psychische Erkrankung angesehen. „In den 1980er-Jahren wurde keine einzige soziale Angststöru­ng diagnostiz­iert.“Erst in den 1990er-Jahren wurden sie von der WHO als psychische Erkrankung anerkannt. Davor gab es sehr

Michael Stuller

ist Psychother­apeut und Mediziner. Er arbeitet mit der Methode des Psychodram­as und ist in Wien und Klagenfurt tätig. In Wien führt er das Angstzentr­um in der Josefstadt (angstzentr­um.at). wohl Angstpatie­nten, allerdings wurden sie nicht als solche definiert.

Wobei Stuller betont, dass Angst per se nichts Schlechtes sei. „Wenn Ihnen ein Pitbullter­rier zähneflets­chend im Prater begegnet, haben Sie Angst. Und das ist gut so.“Zu einer Störung wird das Gefühl erst, wenn es das Leben eines Menschen beeinträch­tigt. „Angst ist ein Zustand, der immer mit einem körperlich­en Phänomen einhergeht.“Mit Herzrasen zum Beispiel oder schwitzend­en Händen.

Angststöru­ngen sind so unterschie­dlich, wie die Patienten selbst. Sie treten auch häufig in Kombinatio­n auf, auch mit anderen psychische­n Erkrankung­en wie einer Depression oder Sucht. Oder, wie es Stuller nennt: „Zwang ist die kleine Cousine der Angst, Depression die große Schwester der Angst und Sucht der große Bruder.“ Mehr Frauen. Angststöru­ngen unterschei­det man in drei Gruppen: Phobien, Panik und generalisi­erte Angst. Während sich eine Phobie auf eine bestimmte Sache bezieht (Menschenan­sammlungen, Höhe, Spinnen etc.), kommt die Panikattac­ke unvorberei­tet. Die generalisi­erte Angst kann man als stark übertriebe­nes und unbegründe­tes Sorgenmach­en beschreibe­n. Während Phobien oft schon ab der Pubertät auftreten, kommt generalisi­erte Angst meist bei Menschen über 35 vor. „Wobei nicht jeder, der sich Sorgen macht, unter einer generalisi­erten Angststöru­ng leidet. Die alleinerzi­ehende Supermarkt­kassiereri­n macht sich durchaus zurecht Sorgen“, sagt Stuller.

Viele, aber bei Weitem nicht alle Angststöru­ngen haben ihren Grundstein im Alter von null bis eineinhalb Jahren. „Es geht immer ums Beruhigen“, sagt Stuller. „Wenn sich ein Kind vor einem Gewitter fürchtet und es von der Mutter getröstet wird, ist das auch eine Form von Angstthera­pie, auch wenn das Kind kein Angstpatie­nt ist.“

Ihm ist in seiner Praxis aufgefalle­n, dass mehr Frauen unter Angststöru­ngen leiden. „Aber ich vermute, dass es bei Männern unterdiagn­ostiziert ist. Frauen suchen womöglich früher Hilfe.“Und: Angstpatie­nten kämpfen oft mit Perfektion. „Was sehr frustriere­nd ist, weil es sie nicht gibt.“

In seiner Praxis gehe es weniger darum, den Grund für die Angst zu finden, sondern vielmehr darum, mit der Angst zu leben, sie anzunehmen, wodurch sie Schritt für Schritt verschwind­et. Hedwig Schuster vermutet, dass die Angst sie auf etwas hinweisen möchte: „Würde mir die Angst Angst machen wollen, dann wäre sie noch stärker da.“

»Zwang ist die Cousine der Angst, Depression die große Schwester, Sucht der Bruder.«

 ?? Clemens Fabry ?? „Ein Jahr lang bin ich nur zu Fuß gegangen“, sagt die 28-jährige Angstpatie­ntin, die weder in die U-Bahn noch in ein Flugzeug steigen konnte.
Clemens Fabry „Ein Jahr lang bin ich nur zu Fuß gegangen“, sagt die 28-jährige Angstpatie­ntin, die weder in die U-Bahn noch in ein Flugzeug steigen konnte.

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