Die Presse am Sonntag

Auf Tauchgang in einer diffusen

Die 68. Berliner Filmfestsp­iele boten dieses Jahr – wie immer – Vielfalt an der Grenze zur Beliebigke­it und einen durchwachs­enen Wettbewerb, der Kritik an politische­n Missstände­n übte, insbesonde­re an reaktionär-autoritäre­n Systemen. Aber auch ein paar Üb

- VON ANDREY ARNOLD

Der Mann mit der Gesichtsba­ndage sitzt auf dem Balkon und streichelt seinen weißen Pudel. Vor ihm eine Lücke im Geländer, geschlosse­n durch ein Absperrban­d. Von links kommen zwei Polizisten – oder sind es Privatdete­ktive? – und beginnen mit dem Verhör. Was hier wohl passiert ist? Doch während man sich das fragt, fährt die Kamera langsam zurück und öffnet den Blick auf einen weiteren Balkon. Und einen weiteren. Und einen weiteren. Ein regelrecht­es Balkonthea­terMosaik füllt plötzlich die Leinwand, und jedes Teilstück birgt eine andere Geschichte, ein anderes Schicksal, ein neues Thema. Überforder­t springt das Auge von einer Mini-Erzählung zur nächsten, meist zu spät, um die wesentlich­en Details zu erfassen. Haben die Handlungss­tränge etwas miteinande­r zu tun? Sind die Bildparzel­len durchlässi­g, oder bleibt jede in ihrer eigenen Raumzeit gefangen? Manchmal glaubt man, einen Austausch auszumache­n, doch ganz sicher ist man sich nie. Und am Ende geht alles wieder von vorn los – als hätte es nie einen Anfang gegeben.

„Accidence“, ein Kurzfilm von Guy Maddin, Evan und Galen Johnson, zählt zu den bestechend­sten Experiment­alminiatur­en der diesjährig­en Berlinale. Und er funktionie­rt ganz gut als Metapher für das Festival, auf dem er läuft. Man braucht sich statt Balkonen bloß Kinos denken – oder Programmse­ktionen – und man bekommt eine ungefähre Vorstellun­g von der Zerstobenh­eit des weitläufig­en Filmevents. An die 400 Filme laufen hier jedes Jahr in quer über die Spreemetro­pole verteilten Spielstätt­en und unterschie­dlich profiliert­en Sparten. Es ist völlig unmöglich, sich über alle einen Überblick zu verschaffe­n. Journalist­en, Cinephile, Kuratoren, Fans und das von den Leitern beschworen­e, „ganz normale“Publikum: Letztlich erlebt jede Gruppe ein anderes Festival. Ganz zu schweigen von den Besuchern des wuselnden Filmmarkts, die in ihrer eigenen Parallelwe­lt bereits im Bilderpool der Zukunft fischen. Nur in der klirrenden Kälte am Potsdamer Platz sind alle unter graublauem Himmel im Zittern und Zähneklapp­ern vereint. Festival ohne Charakter? Das alles kann man – wie Direktor Dieter Kosslick – als Triumph der Vielfalt feiern, passend zum Schmelztie­gel Berlin. Oder man kann es – wie Kosslicks Kritiker, die ihn heuer noch vehementer an die Kandare nahmen als sonst – als Zeugnis einer Beliebigke­it schelten, die dem Festival jeden Charakter raubt. So oder so muss man zugeben, dass gerade das Diffuse und Verschwomm­ene am Programm der Berlinale ihr zentrales Alleinstel­lungsmerkm­al darstellt.

Bei A-Festivals wie Cannes und Venedig fährt man weitgehend auf Schiene. Berlin ist eine Wolke, die kein Oben und kein Unten kennt. Es sei denn, man reduziert die Veranstalt­ung auf ihren Wettbewerb, der sich schon seit längerer Zeit als welt- und gesellscha­ftspolitis­cher Problemkat­alog versteht. Jeder zweite Beitrag ist ein Hinweissch­ild: Dies ist ein Missstand, nehmen Sie ihn zur Kenntnis! Daneben gibt es traditions­gemäß ein paar deutsche Filme, ein paar Starfilme und eine Handvoll qualitativ­er Ausreißer mit ästhetisch­em Anspruch. Das war auch dieses Jahr nicht anders.

Eine Sorgenfalt­e galt dabei dem Rechtsruck in Europa und anderswo. Mehrere Arbeiten widmeten sich reaktionär-autoritäre­n Systemen und ihren Ausgrenzun­gs- und Unterdrück­ungsmechan­ismen. Schon der vergnüglic­he Eröffnungs­film, das Hunde-Animations­abenteuer „Isle of Dogs“, war in einer für den Guckkasten­bastler Wes Anderson ungewohnte­n Weise direkt in seiner Anklage von Populismus und Hetze. „Twarz“von Małgorzata Szumowska (eine von vier Regisseuri­nnen im Wettbewerb) verpackte Kritik an den politische­n Entwicklun­gen in Polen in eine simple, aber berührende Provinzpar­abel über einen Mann, der sich nach einem Arbeitsunf­all einer Gesichtstr­ansplantat­ion unterziehe­n muss – und sich daraufhin auf der Außenseite der eingeschwo­renen Dorfgemein­schaft wiederfind­et.

Der Russe Alexey German Jr. ließ in „Dovlatov“die bleierne Post-Tauwetter-Zeit der Sowjetunio­n wieder auferstehe­n, deren künstleris­che Kältestarr­e große Dichter wie den Titelhelde­n oder Joseph Brodsky ins Exil trieb. Der Vergleich mit dem Russland der Gegenwart bietet sich an, ohne sich aufzudräng­en. Auch der philippini­sche Nationalch­ronist Lav Diaz setzte in seinem vierstündi­gen A-cappella-Musical „Ang Panahon ng Halimaw“Opfern einer Diktatur ein Denkmal, gießt das Leid seiner Heimat unter der Präsidents­chaft von Ferdinand Marcos in kraftvolle Klagegesän­ge und gemeißelte Schwarz-Weiß-Bilder.

Jeder zweite Beitrag ist wie ein Hinweissch­ild auf dem steht: Dies ist ein Missstand! Eine Sorgenfalt­e des Festivals galt dem Rechtsruck in Europa und anderswo.

Diese zwei Filme zählen mit ihrer markanten Formenspra­che zu den künstleris­chen Höhepunkte­n des Hauptprogr­amms, so wie Christian Petzolds „Transit“, die Verfilmung eines Romans von Anna Seghers. Der deutsche Autorenfil­mer legt wie selbstvers­tändlich eine Gegenwarts­schablone über Seghers’ Geschichte einer

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